Geschichten aus der Provinz

■ Im Arsenal wurden zwei Kurzfilmprogramme uraufgeführt

Uraufführung. Am Dienstag abend im Arsenal reichten die Kinosessel nicht aus, denn am Jour fixe der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin wurden vor großem Publikum zwei sehr unterschiedliche Kurzfilmprogramme uraufgeführt. Genrespiele, der erste Teil, gemeinsam mit dem Südwestfunk produziert, zeigt sechs Kurzfilme, die in Anlehnung an verschiedene Genres eine besondere Form der filmischen Kurzgeschichte benutzen. Jedes Genre hat seine Konventionen, und so lassen sich bei manchen Filmen verwandte Handlungskonstellationen, immer wieder auftauchende Charaktere und Motive (Mord) registrieren.

Felix von Mark Schlichter stellt die Verbindung von familiärer Tragödie und Road movie dar: ein Mann, eine Frau und Felix, das Kind. Das Paar raubt in einer sächsischen Kleinstadt eine Bank aus, der Mann wird angeschossen. Er ist ein brutaler Macker, der die Frau und Felix beschimpft. Doch fast wie im richtigen Leben liebt sie ihn doch. Das Familienglück wird angestrebt, nachdem der Überfall abgehandelt ist, aber Felix kapiert die Schizophrenie des absurden emotionalen Wandels. Er läßt die Erwachsenen mit ihren verkorksten Sado-Maso- Seelen-Spielen allein, setzt sich in den BMW mit Berliner Kennzeichen und fährt dorthin, wo es schöner ist. Der Einsatz von Musik, Verfolgungsfahrten durch sommerliche Rapsfelder, ziehenden Wolken und blauem Himmel läßt eine packende, dichte Geschichte entstehen. Ebenfalls in der Provinz ist Westerwald von Bernd Löhr angesiedelt. Ein Verbrechen passiert in der Heimat, die keine Heimat ist. 1970 beobachtet Hänschen den Mord an einem jungen Mann im Wald; die Täter sind drei Männer aus seinem Dorf. Zwanzig Jahre später kommt er zur Beerdigung seiner Großmutter. Und prompt wird ihm gesagt, daß er in der Stadt hätte bleiben sollen. Hänschen will der Bluttat von damals nachgehen und wird dabei selbst erschossen: die Geschichte von einem, der zurückkam und dabei das Fürchten vergessen hat. Mit Hilfe von Musik, Zeitlupe, Überblendungen und Großaufnahmen spielt der Film die Gegensätze zwischen vermeintlicher Idylle — viel Wiese, Wald und Tier — mit der unerklärlichen Grausamkeit in der Natur des Menschen aus.

Horst Markgrafs Jenseits der Gleise erweckt ebenfalls Ressentiments gegen den Heimatfilm. Schauplatz ist auch hier die Provinz — es herrscht ein Ambiente wie in Bitterfeld. Ein junger Fabrikarbeiter soll entlassen werden und entführt deshalb mit einer Freundin einen der Chefs. Die beiden tun dies im Stile von Kasperl und Gretel, per Fahrrad und angespanntem Karren. Der Plan zur Profitvermehrung schlägt fehl, niemand braucht den Chef und will das Lösegeld zahlen. Der Mann und die Frau, deren herausragende Charakteristika ihre Naivität und Gutmütigkeit darstellen, klauen ein Motorrad und hauen ab. Leider läßt die Spannung gegen Ende des Films nach.

Karsten Weissenfels zitiert in Der Tod des Gottes Attribute des ritterlichen Schauerfilms. Die Protagonisten bleiben hinter Ritterrüstugen verschanzt; unter dem Zusammenspiel von Licht, Dunkelheit, Schatten und Nebel werden in einem schauerlichen Gemäuer Menschen gemeuchelt, um das Geheimnis Gottes zu bewahren.

Luke MC Bain läßt einen Detektiv ironisch und witzig von seinem Letzten Fall erzählen. Die brillante Parodie wurde in Schwarzweiß gedreht, vermischt mit ein paar Farbklecksern und vielen filmtechnischen Mitteln.

Im zweiten Teil des Programms wird mit dem gesamten Kurzfilmblock aus dem Wettbewerb des Max- Ophüls-Wettbewerbs Saarbrücken 1992 ein breiteres filmisches Spektrum präsentiert: vom radikalen Experiment, das den ZuschauerInnen Phantasie abverlangt, über eine Melange aus imaginativem Essay und Dokumentarfilm bis zum surrealen Porträt eines Grenzpostens, der mit der Einsamkeit konfrontiert wird.

Vom Jehirn aus wollen, Calle Overwegs Dokumentation einer Karatestunde, gehört zu den witzigsten Arbeiten des Abends. Unkommentiert sprechen die Bilder für sich, zeigen Menschen, die sich von ihrem Meister schinden und schlagen lassen, um durch ihn den Willen zu erlangen, den sie selbst nicht haben. Die Kamera zeigt schmerzverzerrte, schweißnasse Gesichter, sie torkelt, schwindelt und schwankt. »Er ist ein Trainer, aber er ist auch ein Mensch«, meint einer der Schüler zuletzt. Andrea Winter