: Jenseits von Gut und Böse
■ Joe Cocker rief und alle kamen. Sogar wir.
Der Mann sieht seit Jahrzehnten gleich aus. Wie einmal gealtert und dann für immer auf dieser Stufe konserviert — jenseits von Gut und Böse. Nicht einmal die Haarinsel auf seiner Stirn ist weniger geworden. So einer hängt sich nicht mehr an Trends, er wirbt mit seiner Geschichte, seinem Gesang und seinem Gesicht. Love it or leave it: Joe Cocker ist Joe Cocker ist Joe Cocker, eine lebende Tautologie, ein Klassiker, der mit sich selbst eine eigene Gewichtsklasse bildet.
Sie wirkt tatsächlich ein wenig wie ein Boxring, die Bühne in der Deutschlandhalle, aufgeräumt, hell gehalten, mit viel freier Fläche zwischen den Lautsprecheranlagen und Scheinwerfern, die effektvoll über dem Geviert zirkulieren. Tony Joe White, ewiger Geheimtip aus Louisiana und einer der wenigen, die gegen Cocker in seiner Disziplin antreten könnten, ist nicht gekommen — ohne Angabe von Gründen. Vielleicht duldete der Meister am Ende doch keine Legenden neben sich. So wartet alles nur auf seinen Auftritt und läßt die leichtgewichtige Vorgruppe (Energy Orchid — macht wirklich nichts, wenn man sie nicht kennt) milde bis ungeduldig über sich ergehen.
Cocker betritt den Ring mit der Gewißheit des Siegers. Obwohl er noch im Dunkeln steht, haben ihn natürlich längst alle erkannt, nicht zuletzt dank seiner unverwechselbaren Statur. Der »Van Gogh des Rock 'n' Roll« ('Berliner Zeitung‘) lockert sich, schaut in die Runde, schiebt schon mal probeweise ein wenig sein Bäuchlein vor, während über der Bühne blaue Lichtkegel aufflammen, sich bündeln und teilen. »Wie Chromosomen«, staunt meine Nachbarschaft in Block 10 mit großen Augen, und tatsächlich: was folgt, ist die Entwicklungsgeschichte des Joseph Cocker in nuce, eine kleine Lichtbild- Revue in Sachen Blues. Von schicksalhaften Baßklängen untermalt, beginnt sie in den frühen Sechzigern, streift im Zeitrafferverfahren die ersten Erfolge, erinnert an die Mad dogs & Englishmen-Tournee, an Mittelscheitelwahnsinn und berühmt gewordene Plattencover. Es sind Erinnerungsbilder einer Generation, die hier der Reihe nach angeleuchtet werden, bis auch — Spot an! — dem letzten klar wird: hier steht ein Überlebender, ein Veteran, ein Monument.
Die Älteren im Publikum dürfen sich an den Krieg erinnern, die Jüngeren von Zeiten träumen, in denen Musik noch Weltanschauung war. Und Cocker macht es ihnen leicht, verwirrt nicht mit Experimenten. Von Anfang an bringt er die großen Hits, von Cry me a River über Many Rivers to cross bis hin zur Superschnulze Heaven lift us up where we belong, dazwischen locker eingestreut Titel von seiner aktuellen Platte Night Calls, einer Art-Evergreen-LP. Brüche sind nicht gefragt. Alles ist wie im richtigen Leben oder zumindest, wie man einmal dachte, daß es dort zugehen sollte: mit Höhen und Tiefen, ganzheitlich gewissermaßen. Ballade folgt auf Boogie folgt auf Blues folgt auf Ballade — eine Gala der ganz großen Gefühle, die von der Band routiniert heruntergespult wird.
Alles paßt nahtlos an- und ineinander, auch optisch. An dramatisch entscheidenden Stellen steigt das Saxophon springsteengleich auf die kleine Anhöhe hinter den zwei (!) Schlagzeugern, bläst mit viel Wind ins hoch emporgereckte Horn, ein paar Gogo- Girls im kleinen Schwarzen sorgen für den nötigen Soul-Touch, und die Gitarristen dürfen in wohlgesetzten Abständen ein — meist schweinigliges — Solo herausfingern. Trotzdem bleibt alles auf den Star des Abends bezogen, der mit ausladenden Armen gefährlich am Bühnenrand herumrudert, bei bester Stimme ist und sichtlich sein Geld wert sein will. Cocker geht von Runde zu Runde, macht keine Pause, weiß, was er seinen Fans schuldig ist: Blut, Schweiß und Tränen und ein auf offener Bühne zerrissenes Herz. »And this loneliness won't leave me alone«, japst er mit Feeling. Nach drei Stücken fällt das großgemusterte Entertainer-Jackett, schon wenig später muß er sich von einem der Gogos ein schneeweißes Handtuch reichen lassen.
Doch der Kampf ist ohnehin längst gewonnen. Cockers Musik taugt nicht mehr zu Unversöhnlichkeiten gleichwelcher Art, in ihrer behutsam modernisierten 92er-Version legt sie sich wie eine große Schmusedecke über den Saal, vereint für einen Moment Schüler, Lehrlinge, Studienräte, Mantafahrer und ewige Studenten. Von Anfang an brennen die Lichtlein auf den Rängen, der Wille zum Applaus ist durch nichts aufzuhalten, und während ich noch hoffe, daß er wenigstens With a little help from my friends nicht spielen wird, setzt der Ex-Schlosser aus Sheffield auch schon zur Wunscherfüllung des Abends an. Das Teil kommt noch genau wie damals, und Cocker genießt das. Wie gesagt: Der Mann ist eben ein Klassiker, ein Faktotum, ein kumpelig geliebter Gesamt-Bukowski. Noch manches unschuldige Gasfeuerzeug wird für ihn dran glauben müssen. Thomas Groß
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