SOMNAMBOULEVARD — CAFÉ ORIENTAL Von Micky Remann

Welch ein Vergnügen, im Schlaf bei Ahmeds Orient Grill Koriander-Hammel zu riechen und Pfefferminztee zu trinken! Ahmed hat sich den Spitznamen „Arabischer Nachtmahr“ zugelegt, und das will selbst auf dem Somnamboulevard was heißen.

Wenn er Pause hat, wie jetzt, lehnt er sich gegen den Steinofen und erzählt. „Stell dir vor“, sagte er, „neulich war so ein gelackter Effendi hier und machte sich über meinen Namen lustig. Ich hörte mir das erst in Ruhe an, bis ich ihn bat, er möge in diese Bronzeschale schauen.“

Ahmed holt die halb mit Wasser gefüllte Schale aus dem Regal, und ich glotze natürlich auch rein. „Kaum hatte er den Kopf darüber gebeugt“, redet Ahmed weiter, „erstarrte sein Gesicht, und sein mit Frechheiten sonst so gesegnetes Mundwerk verstummte. Denn was er sah, war...“

„Sei still Ahmed!“ unterbreche ich ihn, „ich habe es ja selbst vor Augen, hier in der Schale: Da ist der Effendi, wie er sieht, daß er sich plötzlich unter Wasser befindet, in einem tiefen, zeitlosen Meer, wo niemand zu atmen braucht. Ganz langsam arbeitet er sich nach oben, bis er den Kopf aus dem Wasser recken kann. In der Bucht vor ihm liegt eine prächtige, fremde Stadt. Er watet zum Strand, der menschenleer ist bis auf eine junge Frau mit goldklimpernden Armreifen und pechschwarzen Wimpern. Er hört die Bezaubernde sagen: ,Sei gegrüßt. Ich wußte, du würdest kommen, denn du sollst mein Mann sein!‘ Der Effendi ist schwer verblüfft, aber angetan genug, um nicht abzulehnen. Hand in Hand gehen sie zur Stadt mit den silbernen Zinnen. ,Okay, wir heiraten‘, sagt der Effendi, ,aber woher wußtest du, daß ich der Richtige bin?‘ ,Ich trinke mit Vorliebe Pfefferminztee bei Ahmeds Orient Grill‘, lächelt die Entzückte mit Alabasterzähnen. ,Dort durfte ich in eine Zauberschale blicken, darinnen du zu sehen warst, wie du aus dem Meer stiegst.

Der Rest war easy, ich mußte an der geweissagten Stelle nur ein paar Träume auf dich warten.‘ ,Unglaublich!‘, stammelt der Effendi. ,Aber wahr‘, fügt die Reizende an, und bald sind sie ein Paar. Der Effendi lernt, gefälschte Rolex-Uhren zu reparieren, das macht ihn reich, und zwei Töchter bekommen sie auch bald. Das Leben ist eine jahrelange Wonne, doch beim dritten Kind stirbt die Frau. Kurz bevor sie die berükkendsten Augen des Orients schließt, haucht sie: ,Effendi! Mein Geliebter, auch du kannst hier nicht bleiben!‘

Er weiß, was zu tun ist. Tränenvoll wankt er zurück ins Meer, bis sein Kopf ganz untergetaucht...“

„Erzähl doch weiter!“, höre ich da eine Stimme, doch sie reißt mich zurück in den Orient Grill. „Es ist nichts mehr zu sehen“, klage ich. „So ging's dem Effendi auch — nach zehn Sekunden Schale glotzen“, grinst Ahmed. „Seitdem rennt er wie von Sinnen durch die Stadt und sucht seine Töchter. Der Spott über den arabischen Nachtmahr ist ihm vergangen, vor allem, weil er falsche Uhren noch genausogut reparieren kann wie im Traum.“