Wo sich die Sehnen spannen

Über zwei neue Pasolini-Bücher  ■ Von Georg Herrmann

Es gibt Bücher, die einen verwandeln, die man zur Seite legt als ein besserer Mensch. Nico Naldinis Pasolini-Biographie und seine Sammlung der Briefe des Autors gehören dazu. Wer sie liest, ist für eine Weile geimpft gegen jede Orthodoxie. Nicht weil sich ein Freigeist mitteilt, weil ein souveräner Witz sich überträgt auf den heiter gewordenen Leser. Nein, dem graust es und aus lauter Abscheu werden seine Plasmazellen aktiv und bilden Antikörper gegen die Gemeinheit des den Helden des Stücks verfolgenden gesunden Volkskempfindens. Nico Naldini erzählt eine Passionsgeschichte. Pier Paolo Pasolini, der Verfolgte, das Opfer, verfolgt nicht nur von den angeblich anständigen Bürgern, wie von jenem Tankwart, der ihn wegen bewaffneten Raubüberfalls anzeigte, sondern auch von den selber verfolgten Linken, die den schwulen Pasolini ihren Jägern zum Fraß vorwerfen wollten.

Die KPI schloß ihn aus, als ihm vorgeworfen wurde, er, der 27jährige Lehrer, habe nach einem Dorffest im Gebüsch mit seinen Schülern gelegen und mit ihnen gemeinschaftlich onaniert. Dieser Vorwurf stimmte. Strafbar war die Aktion freilich nicht. Nur wenn Pasolini eine Verführung hätte nachgewiesen werden können, wäre er ins Gefängnis gekommen. So wurde er freigesprochen. Vom bürgerlichen Gericht, nicht von der revolutionären Partei. Frappierend ist vor allem die ungeheure Kontinuität bei Pasolini, seine Treue. Der 24jährige notiert in sein Tagebuch die Erinnerung an seine erste erotische Erfahrung: „Es war in Belluno, ich war etwas über drei Jahre alt. Bei den Jungen, die gegenüber unserem Haus in den öffentlichen Anlagen spielten, beeindruckten mich mehr als alles andere ihre Beine, vor allem in der Kniekehle, wo sich mit einer eleganten und heftigen Bewegung die Sehnen spannen, wenn das Bein im Lauf angewinkelt wird. In jenen zuckenden Sehnen sah ich ein Symbol des Lebens, daß ich noch erreichen mußte: jene Bewegung eines laufenden Jünglings verkörperte für mich das Groß-Sein. Heute weiß ich, daß es sich um eine ausgesprochen sinnliche Empfindung handelte. Wenn ich sie jetzt verspüre, fühle ich genau in meinem Bauch die zärtliche Rührung, die Traurigkeit und die Gewalt des Begehrens. Es war die Empfindung des Unerreichbaren, des Fleischlichen...“

Sein Leben lang ist Pasolini hinter diesen Jungen hergelaufen, ihnen treu geblieben. 1958 schrieb der 36jährige: „Ich verliebe mich ausschließich in Jungen unter zwanzig, die sehr naiv sind, ich würde sagen, fast nur aus dem Volk (naiv in kultureller, nicht in erotischer Hinsicht)“. Die Geschichte einer Papierblume, ein Kurzfilm aus dem Jahr 1968, zeigt den pickligen Ninetto Davoli, der zwölf Minuten lang nichts anderes macht als deppert vor Glück durch Rom zu hüpfen. Kein Film, sondern eine Liebeserklärung. Keine, die versucht, das geliebte Objekt schön zu machen in den Augen der Welt, sondern eine, die freudig ihrem Wahn, ihrer gerade noch mitteilbaren, nicht aber nachvollziehbaren Fixierung, mehr nachgibt als Ausdruck verleiht.

Ebenso treu wie seiner ersten Liebe blieb Pasolini seinen Ideen. DieFreibeuterschriften, durch die bei uns der Autor Pasoloni berühmt wurde, entstanden seit dem Januar 1973, als Pasolini die Tribuna libera im 'Corriere della Sera‘ übernahm und sie mit seinem Essay gegen die Langhaarigen eröffnete. Pasolinis ganz persönliche Opposition gegen rechts und gegen links, die sie kennzeichnete, ist freilich viel älter. Schon 1954 schrieb Pasolini mit Gramscis Asche einen Text, der nicht nur seine politische Haltung bis zum Tod definieren sollte: „...Willenlos lebe ich/ in der erloschenen Nachkriegszeit: liebe die Welt,/ die ich hasse — in ihrer Misere/ verächtlich, verloren — aus einem dumpfen Skandal/ des Bewußtseins.../ Dem Skandal, daß ich mir widerspreche, daß ich/ mit dir und gegen dich bin: mit dir im Herzen,/ im Licht, gegen dich in den dunklen Gedärmen.“

Auch der Form ist er treu geblieben. Er hörte nie auf, sich zwischen antithetischen Setzungen zu bewegen. Dazu gehörte ein zitierendes Pathos, ein Traditionalismus, der das Klischee nicht meidet, sondern sucht, es zu funktionalisieren, es nutzbar zu machen für die eigenen Zwecke. „Ich übernehme berwährte literarische Muster, um freier zu sein. Natürlich aus praktischen Gründen“, schrieb er 1971. Pasolini war nie ein junger Wilder. Seine ersten Gedichte waren Meisterwerke einer künstlichen, kunstvollen Archaik. Gedichte im friaulischen Dialekt, den er erlernt hatte, um sie schreiben zu können, den er aber auch brauchte, um damals in Casarsa frei mit den Jungen sprechen zu können, die ihn so faszinierten. Das Künstliche seiner Einfachheit ist von der Kunst, mit der er das Einfachste — den sexuellen Kontakt — erst verstecken, dann stilisieren mußte, nicht zu trennen. 1948 schreibt er in einem Brief: „Meine Homosexualität ist nunmehr seit Jahren Teil meines Bewußtseins und meiner Gewohnheiten geworden und nicht mehr ein anderer in mir. Ich habe viele Skrupel, Unduldsamkeiten und Vorstellungen von Anstand überwinden müssen... doch schließlich ist es mir, wenn auch blutend und narbenbedeckt, gelungen, zu überleben und sowohl die Ziege als auch die Kohlköpfe zu retten, das heißt den Eros und den Anstand.“ Zwei Jahre später schreibt er an Silvana Mauri: „... scheint es mir, daß auch Du, wie viele andere, den Verdacht hegst, in meinem Fall seien Ästhetizismus oder Selbstgefälligkeit im Spiel. Aber Du irrst Dich, Du irrst Dich gewaltig. Ich habe gelitten, was man nur leiden kann, ich habe meine Sünde nie angenommen, ich habe mich meiner Natur nie gefügt und mich auch nie daran gewöhnt. Ich war dazu geboren, heiter ausgeglichen und natürlich zu sein: meine Homosexualität war eine Zugabe, war außerhalb, hatte nichts mit mir zu tun. Ich habe sie immer neben mir gesehen wie einen Feind, ich habe sie nie in mir empfunden. (...) Es war in Belluno, als ich dreieinhalb Jahre alt war, da empfand ich zum ersten Mal jene überaus süße und gewaltige Anziehung, die von da an in mir war, immer gleich, blind und finster, wie ein Fossil. (...) Ein dreijähriges Kind, das in einen dreizehnjährigen Knaben verliebt war.“ Wie er seinen Trieb hier von Satz zu Satz verschiebt, ihn herausnimmt aus sich, dann wieder einschließt in sich, das zeigt auch, wie gern er ihn in die Hand nimmt, hin und her bewegt, das Pubertär-Masturbatorische seiner Homosexualität. Er läßt ihm keine Ruhe, und er läßt ihm keine Ruhe. Die beiden Briefe zeigen aber auch, wie falsch die Vorstellung ist, Pasolini habe irgendwann einmal seine Sexualität einfach leben können. Dazu hat sie ihn immer zu sehr involviert. „In mir hat die Schwierigkeit zu lieben das Bedürfnis zu lieben zur Obsession gemacht“, schreibt er.

Das sind Stellen, an denen die Wut erzeugt wird, die den Leser für eine Weile zu einem besseren Menschen macht. Das Vorurteil, wie die Aufklärung sagte, das den Pasolinis die Liebe erschwert, daß sie ihr obsessiv anhängen müssen, verurteilt sie eben dafür. Die Pasolinis werden gestraft für das, was man ihnen angetan hat von denen, die keine Sekunde aufhörten, es ihnen anzutun.

Warum zum Teufel tun wir das? Warum kann man sie nicht einfach machen lassen? Was mischen wir uns ein in ihre Lüste? Warum lassen wir zu, daß andere sich einmischen? Warum soll ein Lehrer seine Schüler nicht lieben?

Bessere Menschen sind dümmere Menschen. Sie haben weniger Antworten. Naldinis Bücher stellen noch nicht einmal die Fragen. Dazu sind sie zu klug. Aber wer sie liest, sitzt immer wieder da und stellt sie. Erst leise, dann immer lauter, weil er immer weniger Antworten, die er gelernt hat, versteht. Dann würde er sie am liebsten herausbrüllen, weil er die Antworten verstanden hat. Sie sind nichts anderes als der Terrorismus des kleinen Mannes und dessen Besessenheit, alles seinem Bild gleich zu machen, nichts auszulassen, was abweicht und schon garnicht, daß gegessen wird vom Baum der Erkenntnis.

Marcuses Kritik an der Eindimensionalen Gesellschaft, am Konsumismus hat viele Berührungspunkte, mit dem, was der späte Pasolini schrieb. Vieles von dem, was heute als Kritik an der Linken zitiert wird, war damals Gemeingut der Neuen Linken gegen die alte, die sich ja nicht nur mit dem Status quo, sondern auch mit den Massakern Stalins zu arrangieren gewußt hatte. Aber daß Pasolinis Blick soviel schärfer, sein Haß soviel rückhaltloser war, hat mit der Erfahrung des Ausgeliefertseins zu tun. Er war es jede Nacht, wenn er in den römischen Vorstädten nach einem Jungen suchte. Er konnte Preise gewinnen soviel er wollte, ge- und berühmt werden, er wußte, jeden Moment konnte die Parole ausgegeben werden: Schlagt ihn tot den Hund. Am 1.November 1975, gegen 18 Uhr, beendet er ein Interview: Er weiß einen Titel: „Wir sind alle in Gefahr“. In der Nacht darauf wird Pasolioni „auf einem Sportplatz bei Ostia, wo im Sommer des vorangegangenen Jahres einige der heitersten und sinnlichsten Szenen des Films Erotische Geschichten aus 1001 Nacht gedreht worden waren — einem staubigen Platz voller Gerümpel, der sich in eine mythische Pflanzennatur verwandelt hatte —, von einem siebzehnjährigen Jungen ermordet“.

Pier Paolo Pasolini. Eine Biographie von Nico Naldini, übersetzt von Maja Pflug, Verlag Klaus Wagenbach, 350 Seiten mit zahlreichen S/W-Abbildungen, 32DM

Ich bin eine Kraft des Vergangenen. Briefe von Pier Paolo Pasolini, hrsg. von Nico Naldini, übersetzt von Maja Plug, Verlag Klaus Wagenbach, 317 Seiten, S/W-Abbildungen, 39,80DM