Chinas 'Volkszeitung‘ geht mit der Zeit

Wirtschaftsreformfreudige Editorials im KP-Organ nähren Spekulationen über Zurückweichen der Hardliner in der Partei/ Deng Xiaoping bringt die KP vor dem Parteikongreß auf seinen Reformkurs/ In mehreren Provinzen bricht Börsenfieber aus  ■ Von Simon Long

London (taz) — In China ist die „Reform“ anscheinend wieder in Mode gekommen. Am auffälligsten ist der neue Trend im KP-Organ 'Volkszeitung‘ zu erkennen, das diese Woche zweimal hintereinander Editoriale auf der ersten Seite druckte, in denen einige Aspekte des Kapitalismus gelobt und mutigere Wirtschaftsreformen gefordert wurden.

Konservative Bastion

Die Editoriale gaben Meinungen des „Elder Statesman“ Deng Xiaoping wieder, die er vergangenen Monat im Süden Chinas geäußert haben soll. Doch die 'Volkszeitung‘ galt bislang als Bastion des Konservatismus und hat die Äußerungen Dengs, wie auch andere staatliche Zeitungen, nicht direkt zitiert. Seit dem Tiananmen-Massaker von 1989 sind die Editoriale der 'Volkszeitung‘ einer eher konservativen Linie gefolgt. Sie haben die Wichtigkeit ideologischer Korrektheit betont und vor westlichen Unterwanderungsversuchen des Sozialismus gewarnt.

Hartnäckige Gerüchte besagen, daß Deng die 'Volkszeitung‘ nicht mag. Im Frühjahr 1991 erschien in der Schanghaier 'Jiefang Ribao‘ eine außergewöhnlich mutige Artikelserie über die Wichtigkeit „emanzipatorischen Denkens“. Angeblich steckte Deng dahinter. Aber in der 'Volkszeitung‘ konnte er sie nicht unterbringen, da der Chefredakteur Gao Di als Hardliner gilt.

Nun hat die 'Volkszeitung‘ sich jedoch selber hinter Dengs reformistische Rhetorik gestellt. Dengs Äußerungen des vergangenen Monats— die ersten in der Öffentlichkeit seit fast einem Jahr — waren extrem reformorientiert: China, sagte er, sollte „vor dem Kapitalismus keine Angst haben“. Die 'Volkszeitung‘ griff das Thema am Sonntag auf und nannte einige kapitalistische Phänomene, die der chinesischen Wirtschaft nützlich sein könnten, wie Aktienbörsen, Firmenzusammenschlüsse, Auftragsvergabe, konkurrierende öffentliche Ausschreibungen und Leasing-Verträge. Das Editorial vom Montag sprach direkt von Dengs Ruf nach einer „Emanzipation des Denkens“ und enthielt Anklänge an Dengs bekannte, simple Rechtfertigung von Reformen: „Das Alte funktionierte nicht.“ Die neue Rhetorik geht mit einigen konkreten Maßnahmen einher. Letzte Woche erlaubte die Börse von Schanghai zum ersten Mal, daß Ausländer mit ihren Anteilen an dem einzigen Unternehmen mit ausländischen Aktionären handeln dürfen. Die Südprovinzen Guangdong, Fujian und Hainan wollen allesamt Börsen eröffnen. Ein neuer Akzent wird auch auf die Wichtigkeit der Reform der staatseigenen Industrie gelegt: Manager, so wird erklärt, sollen in Zukunft größere Kompetenzen bei Einstellungen und Entlassungen erhalten, und die bislang kaum angewandte chinesische Gesetzgebung zu Firmenbankrotten soll verstärkt implementiert werden.

Doch noch hat sich der neue Reformkonsens nicht in eine neue Politik verwandelt. Er ist eher eine Werbekampagne Dengs und seiner Unterstützer vor dem Kongreß der Kommunistischen Partei, der später dieses Jahr stattfinden soll. Fast alle Medien unterstützen ihren Kurs.

Chinesische Theoretiker argumentieren, der Hauptgrund für den Zusammenbruch des Kommunismus in anderen Ländern sei seine wirtschaftliche Unfähigkeit gewesen, und dies bestätige Dengs zwölfjährige Vorantreibung von Reformen. Aber, so das Argument weiter, Wirtschaftsreform ist auch ohne grundsätzliche politische Reform möglich. Und es ist zu beachten, daß Dengs Äußerungen noch nicht direkt in der 'Volkszeitung‘ und anderen führenden Presseorganen berichtet werden, obwohl seine Politik sich in der Oberhand befindet. Dies könnte auf hinhaltenden Widerstand gegen seinen Versuch hindeuten, die Diskussionen um Wirtschaft und Politik unter seine Kontrolle zu bringen.

„Wer gegen die Reform ist“, soll Deng gesagt haben, „muß die Bühne verlassen.“ Die 'Volkszeitung‘ ging am Sonntag einen Schritt weiter und rief zu „Unterstützung und Schutz für diejenigen auf, die sich der Pionierarbeit für Reformen widmen“. Dies wird zu neuen Spekulationen über die Zukunft des früheren Parteichefs führen: Zhao Ziyang, der Pionier vieler der grundsätzlichsten chinesischen Reformen, der im Juni 1989 wegen angeblicher ideologischer Schwäche während der massiven Proteste gegen die Regierung in Ungnade fiel.

Eine Rehabilitierung Zhao Ziyangs wäre ein klares Zeichen, daß die chinesische Regierung zurück auf dem Reformkurs gelandet ist. Sie würde auch der Strategie entsprechen, die Deng immer dann angewandt hat, wenn sein Reformprogramm von Hardlinern gefährdet war, wie zum Beispiel nach der Absetzung seines einstigen Günstlings Hu Yaobang im Jahre 1987. Diesmal ist die Sache jedoch komplizierter. Eine Rückkehr Zhaos, auch in einer weniger prominenten Rolle, würde bedeuten, daß er einen Teil der Verantwortung für das Desaster von 1989 akzeptiert — sonst müßte eine offizielle Neubewertung der Proteste und des Massakers stattfinden. Und zu viele Mitglieder der gegenwärtigen Führung haben Blut an den Händen. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, daß Deng grundsätzliche politische Reformen verlangen könnte oder daß die Tiananmen-Gerichtsurteile umgeworfen werden könnten: Am Dienstag wurden sieben Menschen wegen ihrer Teilnahme an den Protesten verurteilt — darunter Wu Xuecan, ehemaliger Mitherausgeber der 'Volkszeitung‘.