Verzicht auf alte Ansprüche ist Pflicht

■ Anders als manche böhmische Deutsche verharren Vertriebenenverbände in ihren Positionen

Ein schwer zu entwirrender Komplex alter Ängste und neuer Befürchtungen beherrscht gegenwärtig das tschechoslowakisch-deutsche Verhältnis. Die BRD dominiert den Außenhandel der CSFR. Westdeutsche Firmen beherrschen den Automobilmarkt. Rund die Hälfte aller Joint-ventures wurden mit Firmen aus der Bundesrepublik abgeschlossen. Schon in der ersten, „internen“ Versteigerungsrunde, der „kleinen Privatisierung“ von Kneipen, Hotels und Kleinbetrieben, waren die Deutschen über Strohmänner präsent. In der zweiten, der „Ramschrunde“, die den Ausländern offensteht, wird sich kaum jemand gegen die deutschen Angebote durchsetzen können.

Man braucht in der CSFR das deutsche Kapital, aber gleichzeitig fürchtet man es. Deutsche Geschäftsleute tun ihr Bestes, um dem alten Vorurteil, die Germanen verbänden Effizienz mit Selbstherrlichkeit, zu neuem Glanz zu verhelfen. Der Betriebsratsvorsitzende der Skoda-Werke forderte das deutsche Management auf, die Arbeitervertretung wenigstens in den Grundzügen mit der künftigen Geschäftspolitik vertraut zu machen. Die Deutschen handelten über die Köpfe der Belegschaft hinweg. Entschiedenes Dementi.

Zur Furcht vor den neuen Besserwissern kommt noch eine sehr alte Beunruhigung. Werden die Sudetendeutschen, derer man sich nach 1945 entledigte und die jetzt als „fünfter bayrischer Stamm“ auf der anderen Seite des Böhmerwaldes ein auskömmliches Dasein führen, alte Ansprüche geltend machen? Die Restitutionsforderungen der sudetendeutschen Verbände, mehr noch das „Offenhalten“ vermögensrechtlicher Fragen im tschechoslowakisch-deutschen Nachbarschaftsvertrag haben nur schwer verheilte Wunden aufgerissen. Schon vor der demokratischen Wende hatte die Frage, ob es vertretbar war, die Deutschen zu vertreiben, bis in die Reihen der Charta 77 polarisierend gewirkt. Die Ausweisung sei allein mit der Kollektivschuldthese begründet worden und schon deshalb moralisch verwerflich. So argumentierte Václav Havel, so auch führende Historiker wie Karel Kaplan. Sie sei angesichts der fast einmütigen Unterstützung der Hitler-Okkupation durch die Sudetendeutschen, angesichts der Verbrechen während der Hitler-Okkupation unumgänglich gewesen, so entgegneten nicht nur die Realsozialisten, sondern auch untadelige Demokraten wie Jiri Pelikan oder Milan Hübl. Völkerrechtlich ist die „Ausweisung“ durch das Potsdamer Abkommen gedeckt. Daß Havel dennoch von „Vertreibung“ sprach, hätte eine großzügige Antwort seitens der Sudetendeutschen verdient. Dazu haben sich viele der böhmischen und mährischen Deutschen individuell durchgerungen, indem sie heute ohne Bedingungen in ihrer alten Heimat hier ein Kirchendach stiften, dort einen verfallenden Gutshof retten. Die Vertriebenenfunktionäre hingegen verharren in ihren intransigenten Positionen.

Bevor der Nationalismus Tschechen und Deutsche entzweite, bevor nach 1918 die Sudetendeutschen (sie nannten sich erst seit Ende des letzten Jahrhunderts so) der Tschechoslowakei die Anerkennung verweigerten, war Böhmen zwar keine Idylle — aber es ließ sich zusammenleben. In manchen Städten des Grenzgebiets wie Brno oder Olomouc wurde bedenkenlos quer zur Nationalität geheiratet. Die Sprache und die Sitten mischten sich. Es gibt in Böhmen viel Heimweh nach diesen Zuständen. Aber Voraussetzung jeder Multikulturalität ist die Achtung der CSFR, ihrer Institutionen und Menschen — und der Verzicht auf alte Ansprüche, so schmerzlich er auch sein mag. Christian Semler