: Wird das Tote Meer jetzt süßer?
Amman (taz) — „Schneesturm, Eis, Überschwemmung, Schlittern, Glatteis“ — das sind neue Worte für die Jordanier. Seit Anfang des Jahres erleben sie jetzt schon den fünften schweren Schneesturm. Greise erklären, sie hätten so etwas noch nie erlebt. Bekannt war bislang in der Tat nur die Angst vor der Dürre.
„Heute nacht wird es 12 Grad Minus“, teilte der Meteorologe im Wetterbericht des jordanischen Fernsehens mit. „Zwölf Grad Minus“, wiederholte er, und die Hoffnung der erschreckten Zuschauer auf einen Versprecher war dahin. Dann, mit seinem schönsten Lächeln: „Tagsüber wird es nur vier Grad unter Null.“ Den tiefvermummten TV-Sehern wurde noch kälter, als es ihnen wegen nicht vorhandener oder durch Frost zusammengebrochener Heizungen ohnehin schon war. Sogar das Heizöl in den Tanks ist eingefroren. Selten haben sich die Jordanier so für den Wetterbericht interessiert — und selten war er so ungenau wie in den letzten Wochen. Denn im arabischen gibt es — bis jetzt — nur ein einziges Wort für die winterlichen Geschenke des Himmels: „Thaldsch“. Das heißt Schnee, Eis, Hagel, eben alles, was irgendwie gefroren ist. Differenzierungen wie in den europäischen Sprachen, in denen man sogar verschiedene Sorten von Schnee unterscheidet, sind hier unmöglich. Allabendlich wird also aufs Neue „Thaldsch“ angekündigt. Ob das Glatteis, Eisregen oder Schneemassen bedeutet, läßt sich nur durch Augenschein am nächsten Morgen feststellen. Während der ersten beiden Schneestürme freuten sich die Jordanier. „Das ist ein Geschenk des Himmels“, sagten sie. Schüler und Studenten mußten nicht zum Unterricht und organisierten ihre ersten richtigen Schneeballschlachten auf den Straßen. Beamte und Arbeiter gingen in den bezahlten Urlaub. Aber mittlerweile haben alle genug davon. „Wir wollen Gott nicht undankbar sein“, heißt es jetzt, „aber das ist zuviel.“ Seit über einem Monat ist alles gelähmt. Nichts geht mehr. Insbesondere die Landwirtschaft ist schwer getroffen. Viele Bauern begreifen jetzt, daß sie ihre gesamte Ernte verloren haben. Tausende von Oliven- und Obstbäumen sind erfroren. Ungezählte der mit Plastikplanen verkleideten Gewächshäuser sind eingestürzt. Genauere Informationen über die Katastrophe hat das Landwirtschaftsministerium bisher nicht gegeben — man fürchtet eine Panik unter der Landbevölkerung. Das Fernsehen sendet jetzt keine Interviews mehr mit fröhlichen Beduinen, die sich vor der Kamera ihre Aussichten auf besonders wohlgenährte Schafe ausmalten. Jetzt sieht man überschwemmte Dörfer und Beduinenzelte. Viele Landstraßen mußten wegen Glatteis, weggeschwemmter Brücken und herunterrutschender Felsbrocken gesperrt werden. Nach offiziellen Angaben gab es bisher zehn Tote, die nichtamtlichen Medien sprechen aber bereits von einigen Dutzend. Tag und Nacht sind Hubschrauber und Fahrzeuge der Armee im Einsatz, um abgeschnittene Dörfer mit Lebensmitteln und Heizöl zu versorgen. Doch auch der Alltag in der Hauptstadt ist nicht einfach. Siebzig- und Achtzigjährige erklären, so etwas hätten sie noch nie erlebt. Amman liegt auf sieben Hügeln. Die vielen steilen Straßen sind spiegelglatt und damit praktisch unpassierbar geworden. Ein Mann erklärte mir stolz, er habe eine Lösung des Problems erfunden. „Man setzt sich auf eine Abbaya, den Wollmantel der Beduinen, und rutscht einfach herunter.“ An der Frage, wie man den Berg wieder hochkommt, arbeitet er offenbar noch. Hier kannte man bislang die Angst vor der Dürre. Und jetzt gibt es plötzlich zuviel Wasser. Niemand weiß, wohin damit. Die Stauseen laufen über. Die beiden Brücken über den Jordan, normalerweise ein Rinnsal, sind überschwemmt. Man rechnet sogar damit, daß das Tote Meer mit seinem hohen Salzgehalt jetzt etwas süßer werden könnte. Die Jordanier sehnen sich zum ersten Mal nach Wärme. Gott spielt für die Erklärung der Katastrophe selbstverständlich eine große Rolle. Aber es gibt auch säkulare Erklärungen. In einer Karikatur der Zeitung 'Ad-Dustur‘ heißt es: „Gorbatschow ist schuld. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekommen wir sowjetische Einwanderer und Schnee.“ Khalil Abied
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen