Laubbaum legt Raupen lahm

Seit Jahren suchen Wissenschaftler nach ungefährlichen Pestiziden/ Im Samen des Nim-Baumes sehen sie eine mögliche Alternative zu den chemischen Keulen der Pestizidindustrie/ Ein nikaraguanisches Projekt zeigt den Erfolg des Mittels  ■ Von Carla Geiger

Carlos Mendez klopft sich den Staub von den Händen. Zusammen mit anderen Bauern einer nikaraguanischen Kooperative ist er gerade vom Maisfeld zurückgekommen. Seit dem frühen Morgen haben sie die Blättertrichter jeder einzelnen Maispflanze mit einer Prise „gutes Gift“ bestreut, wie Carlos und seine Kooperativengenossen sagen. Ein verdammter Schädling und eine Masse von fetten Raupen drohten die Pflanzen zu zerfressen. Pedro geht als erster nach Hause, ihm ist „irgendwie schwindelig“. „Ist ja auch verdammt heiß“, sagt ein anderer.

Am Montag erscheinen weder Carlos, Pedro oder einer der anderen zur Arbeit. Sie erholen sich von dem kleinen, unvorhergesehenen Krankenhausaufenthalt. Alle fünf mußten noch am gleichen Abend mit Beschwerden in die nächste Klinik. Auf den Vorwurf, warum sie dieses widerliche, giftige Zeug nehmen und nicht einmal eine Atemmaske oder wenigstens eine Plastiktüte über die Hand streifen, grinsen sie und antworten: „Was sollen wir schon machen? Wenn die plaga im Feld ist, nehmen wir, was wir gerade haben, giftig oder nicht! Wir sterben schon nicht davon.“

Seit Jahren suchen Wissenschaftler nach möglichen Alternativen zu den chemischen Keulen der Pestizidindustrie. Im Samen der Nim-Bäume sehen sie ein wirksames Gift gegen Insekten und ein ungefährliches Mittel für Menschen, Tiere und die Umwelt.

Nim-Substanzen irritieren Insekten

Niem — oder indisch: Nim — ist der Name eines in Indien, Sri Lanka, Birma und Thailand weitverbreiteten Laubbaumes (Antelaea azadirachta L syn. Azadirachta indica), dessen lindernde Substanzen in den Blättern, im Samen und in der Rinde schon seit ewigen Zeiten in der Heilkunst dieser Länder bekannt sind. Seit etwa 25 Jahren erforschen Wissenschaftler die in den Samen der Nim-Früchte entdeckten Wirkstoffe. Dabei haben sie festgestellt, daß Insekten und einige noch kleinere Lebewesen weniger fressen, nicht so schnell wachsen und sich auch nicht so rasant vermehren, wenn die Wirkstoffe in deren Körper gelangen. Außerdem reichern sie sich nicht in einer Nahrungskette oder im Boden an und sie gelangen auch nicht ins Grundwasser. Sie sind kein Kontakt- oder Nervengift und vernichten auch nicht die Nützlinge in den Feldern.

Die etwa 20 unterschiedlich wirksamen Stoffe in den Samen, darunter auch das Insektizid Azadirachtin, sind für Menschen und Tiere, vor allem Vögel, nicht giftig. Der Baum hat sie, wahrscheinlich im Laufe der gemeinsamen Evolution von Pflanzen und pflanzenfressenden Insekten, als sehr spezifische Abwehrstoffe entwickelt. So ist es zu erklären, daß das sehr wirksame Azadirachtin in bestimmten Drüsen der Insekten die Synthese von ganz speziellen Hormonen beeinträchtigt. Diese Hormone regeln ihrerseits genauestens die Häutungs- und Verwandlungsschritte dieser erstaunlichen Tiere. Frißt eine Schmetterlingsraupe oder Käferlarve an Blättern von Kohl oder Sesam, die mit Nim- Wirkstoffen besprüht worden sind, gelangen die Azadirachtinmoleküle in das Drüsensystem und blockieren die hormongesteuerten Stoffwechselprozesse, die für die Häutungsschritte notwendig sind. Die übrigen Wirkstoffe in den Samen des Nim- Baumes irritieren die Raupen: Sie fressen weniger und sterben noch als Raupe oder während des Verpuppens; manche schlüpfen noch aus, aber sie können nicht mehr fliegen, so daß sie eine leichte Beute für Vögel sind. Das haben neben Labor- auch Feldversuche in Indien, auf den Philippinen, in Togo, Nigeria und Burkina Faso mit über 130 Insektenarten gezeigt. Auch in den Ländern, in denen der Baum wächst, konnten Bauern diese Wirkung beobachten. Dieser besondere Effekt ist bisher nur von Azadirachtin aus dem Nim- Samen bekannt.

Nim-Insektizide lassen sich leicht herstellen

Der Nim-Baum wächst fast überall und spendet außerdem das ganze Jahr angenehmen Schatten. Mehrere asiatische, viele afrikanische und einige mittel- und südamerikanische Länder haben Klima- und Bodenverhältnisse, die für Nim-Bäume geeignet sind. Auch in Nikaragua hat sich der Baum gut in das Ökosystem der trockeneren Pazifik- und Bergregionen integriert. In diesem zentralamerikanischen Land ist vor viereinhalb Jahren ein Projekt zur Pflanzung und Nutzung dieses Baumes begonnen worden. Es hat sich gezeigt, daß die Wirkstoffe der Nim-Samen sowohl mit sehr einfachen technischen Mitteln nutzbar zu machen sind als auch zu anspruchsvollen, sogenannten „marktfähigen“ Produkten verarbeitet werden können und viel eher den Namen Pflanzenschutzmittel verdienen würden. Das technische und ökonomische Leistungsvermögen der meisten Länder wie Indien, Burkina Faso oder Nikaragua wäre damit auch nicht überfordert. Es ist durchaus vorstellbar, daß viele dieser Länder eigene kleine bis mittelgroße Produktionen von Nim-Insektiziden aufbauen könnten. Die hochwertigen Endprodukte würden einen reißenden Absatz im eigenen Land, im ökologisch sensibilisierten Europa und anderen reichen Ländern finden und den Produzenten in Indien, Afrika und Lateinamerika einen echten Gewinn bringen.

Um dieser „Gefahr“ aus dem Weg zu gehen und selbst das Geschäft mit Nim-Wirkstoffen zu machen entfalten kleinere und größere Pestizidhersteller der Bundesrepublik, USA, Großbritanniens und Japans seit einiger Zeit erstaunliche Aktivitäten.

Pestizidmultis entwickeln eigene Nim-Produkte

Die „Grace Horticultural Products & Co“ (USA) und die „Safer Ltd.“ (Kanada) schickten ihre Einkäufer nach Afrika, Asien und Haiti, um Nim-Samen billig aufzukaufen, für 10 bis 20 Pfennig das Kilo, oder rohes gepreßtes Nim-Öl für eine Mark pro Liter. Es soll in ökomarktgerechte Produkte für die sanfte Schädlingsbekämpfung verwandelt werden. Der Schweizer Chemiegigant Ciba Geigy wollte den Birmesen ihre halbfertigen Extrakte summa summarum abkaufen. Deutsche Unternehmen wie die Trifolio GmbH versuchen mit indischen Firmen Joint- venture-Geschäfte: Die Inder sollen die Früchte beziehungsweise den Samen einsammeln und zu halbfertigem Rohextrakt verarbeiten oder Öl daraus pressen. Das Veredeln zum fertigen Produkt und den Gewinn behält sich der andere „Partner“ vor. Auch die anthroposophisch geführte Auro-Farben GmbH will ein wirklich ungiftiges Holzschutzmittel auf Nim-Ölbasis herstellen. Vorerst hilft schon mal die „Gesellschaft für technologische Zusammenarbeit GmbH“ der Bundesregierung (GTZ), in dem sie aus Niger tonnenweise Rohmaterial herbeischafft und der deutschen Industrie zur Verfügung stellt.

Der mittlere Pestizidmulti „Rohm und Haas Ltd.“ in England geht geradliniger vor. Dort wird der isolierten Hauptwirkstoff für teures Geld auf die Sezierbank gespannt, um das Geheimnis der wirksamen Verknüpfung der drei Elemente Kohlenstoff, Sauerstoff und Wasserstoff zu erkennen und anschließend so weit wie nötig im Reagenzglas nachzuvollziehen. Die Max-Planck-Gesellschaft in München/Martinsried hilft tüchtig mit bei der dafür notwendigen sogenannten Stukturwirkungsaufklärung. Was die BayerAG hinter verschlossenen Labortüren tut, ist vorerst top secret ('Öko-Test‘, Frühjahr 1991). Produktentwicklung zur Rettung unseres Ökosystems oder Verbesserung der Lebensverhältnisse in der Dritten Welt? Aber auch dem Baum selbst geht es an den Kragen: Er wird in Teile zerlegt, um sein Gewebe im Labor zu kultivieren und damit gleichzeitig Wirkstoffe in gehöriger Menge abzuzapfen. „Unabhängigkeit von den beschränkten und unzuverlässigen natürlichen Rohstoffquellen herstellen“ wird das genannt. Es fehlen nur noch die Erfolgsmeldungen aus den Genmanipulationslabors, etwa eines Saatgutkonzerns, die Wirkstoffgene des Baumes seien in Bohnen, Tomaten, Kartoffeln und Weizen verpflanzbar.

Inzwischen hat sich die Biologische Bundesanstalt (BBA) in Braunschweig zu Wort gemeldet. Während einige Pharma- und Kosmetikhersteller in der Bundesrepublik bereits allerhand Nim-Extrakte in Zahnpasta, Haarshampoo und Cremes mischen dürfen, will die BBA nicht vorschnell ein Pflanzenschutzmittel beispielsweise von kleineren Alternativfirmen zulassen, das nicht ebenso allround geprüft wurde wie die synthetischen Mittel. Damit verschafft sie bewußt oder unbewußt etwa den Pestizidmultis genug Zeit, in Ruhe ihre Nim-Produkte zu entwickeln; das teure Zulassungsverfahren ist für sie das geringste Problem.