KOMMENTARE
: Ein Volk von Heuchlern

■ Das irische Abtreibungsurteil hat vorerst keine Konsequenzen

Ein 14jähriges irisches Mädchen, das nach einer Vergewaltigung schwanger wurde, darf nach England reisen. In Irland herrscht Erleichterung und Freude über dieses Berufungsurteil, das ein eigentlich selbstverständliches Grundrecht wiederherstellt. Doch welche Konsequenzen wird die Gerichtsentscheidung für andere Frauen haben? Politik, Justiz, katholische Hierarchie und Bevölkerung werden jedenfalls weiterhin — nun mit gerichtlichem Segen — den Kopf in den Sand stecken und die 10.000 irischen Frauen ignorieren, die jedes Jahr nach England zur Abtreibung fahren.

Ein ganzes Volk hat um das Schicksal des vergewaltigten Mädchens gezittert, Politiker und Politikerinnen haben ihre Besorgnis über das Abtreibungsverbot ausgedrückt. Die logische Konsequenz daraus wäre, jetzt den unseligen Verfassungsparagraphen zu streichen und Schwangerschaftsabbrüche — zumindest in bestimmten Fällen — per Gesetz auch in Irland zu ermöglichen. Das wird jedoch nicht geschehen. Die irische Gesellschaft ist zutiefst intolerant und heuchlerisch, auch wenn sie einzelnen durchaus verständnisvoll und mitfühlend begegnet: Der schwule Senator David Norris ist beliebter Gast bei Talk-Shows, sein Senatssitz ist nicht gefährdet. Das Gesetz von 1861, das Homosexualität mit Hochverrat auf eine Stufe stellt, bleibt jedoch unangetastet. Ein 16jähriger darf heiraten. Kondome bekommt er aber erst mit 18. Stirbt ein Abgeordneter, so fällt sein Parlamentssitz bei der erforderlichen Nachwahl fast automatisch an seine Witwe. Doch nur knapp acht Prozent der Abgeordneten sind Frauen.

Die Politikerinnen und Politiker der anderen EG-Staaten, die nun gegen das Reiseverbot für die 14jährige protestierten, müssen sich zumindest den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit gefallen lassen. Schließlich haben irische Frauen seit 1983, als das Abtreibungsverbot in die Verfassung aufgenommen wurde, vor genau diesem Fall gewarnt. Dennoch haben die EG-Politiker das Zusatzprotokoll zum Maastrichter Abkommen hingenommen, das Irland dieses konstitutionelle Abtreibungsverbot garantiert — auch wenn dadurch andere Rechte in demselben Abkommen beeinträchtigt werden.

Nachdem der irische Generalstaatsanwalt den entsprechenden Paragraphen angewandt hatte, war das Geschrei groß. In Brüssel geht die Angst um, das gesamte Maastrichter Abkommen könnte nun zu Fall gebracht werden. Eine Kampagne gegen seine Ratifizierung in Irland wird den europäischen Druck auf irische Politiker verstärken, etwas in der Frage zu unternehmen. Das ist die Chance für die irischen Frauen, wenigstens das Zusatzprotokoll loszuwerden. Denn wenn es um EG-Subventionen und Absatzmärkte geht, ist auch irischen Politikern das Geld näher als jedwede Moral. Ralf Sotscheck, Dublin