ESSAY
: Wetterfühlig

■ Über die Ursachen deutschenfeindlicher Ressentiments in der CSFR

In den ersten Wochen der tschechoslowakischen sanften Revolution schien es, als ob der Versöhnung zwischen Tschechen und Sudetendeutschen nichts mehr im Wege stünde. Václav Havels öffentlich geäußertes Bedauern über die Vertreibung der Sudetendeutschen waren ein ebenso hoffnungsvolles Signal wie die erste, moderate Erklärung der Sudetendeutschen Landsmannschaft zur politischen Entwicklung in der „alten Heimat“.

Heute, zwei Jahre später, am Tag der Unterzeichnung des deutsch- tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrages, mit dem eine neue Ära in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern beginnen soll, fühlt man sich in eine Zeit weit vor 1989 zurückgeworfen. In den tschechischen Zeitungen aller Couleur finden sich Artikel, deren Ton an die alljährlichen Aufmacher zum Tag der Sudetendeutschen Landsmannschaften in der Parteizeitung 'Rudé právo‘ erinnert. Hier und da taucht sogar das schon totgeglaubte Wort „Revanchismus“ wieder auf.

Sicherlich trägt an dem augenblicklichen Stimmungstief zwischen beiden Ländern vor allem die Bundesregierung mit ihrer Verzögerungstaktik im Vorfeld der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages die Schuld. Mit einer schlafwandlerischen Sicherheit ist es Helmut Kohl gelungen, die uralten tschechischen Ängste vor der großen Nation hinter ihrer Grenze mit den aktuellen Befürchtungen vor der wirtschaftlichen Stärke des vereinigten Deutschlands zusammenzuknoten. Das politisch eher marginale sudetendeutsch-tschechische Tauziehen um die Rückgabe des nach dem Zweiten Weltkrieg konfiszierten deutschen Eigentums potenzierte sich zum „Spannungsfall“ zwischen zwei Nachbarstaaten. Die alten Ressentiments bekamen neue Nahrung, die neuen Ängste ihre Verankerung in der Vergangenheit. Eine fatalere Mischung kann man sich kaum vorstellen. Unzufrieden sind am Ende alle, sowohl die Tschechen als auch die Sudetendeutschen, deren Forderungen letztlich doch nicht berücksichtigt wurden. Genutzt hat das Ganze nur den alten Kadern in der KPTsch, die nach einem kräftigen Wahlkampfthema suchten. Jetzt bekamen sie es frisch aus Bonn geliefert.

Nahrung für Ressentiments

Denn der tschechische Normalbürger lebt heute in einer Situation, die ihn für antideutsche Stimmung anfällig macht. Er, der sich im Zentrum Prags kaum ein Bier leisten kann, wird auf jedem Schritt und Tritt mit Ausländern, meistens Deutschen, konfrontiert, die, obwohl scheinbar sozial nicht besser gestellt als er, für ein Mittagessen ohne mit den Wimpern zu zucken, fast sein halbes Monatsgehalt ausgeben. Er weiß zwar, daß das Land Devisen und Einnahmen braucht und er sich über den Zustrom der Touristen freuen sollte. Tatsächlich aber führt ihm das Erlebnis deutscher Zahlungskräftigkeit nur seine eigene, meist unverschuldete Misere permanent vor Augen. Natürlich möchte er auch an dem ins Land strömenden Geld seinen Anteil haben, das hindert ihn aber nicht daran, sich über die Ausländer zu ärgern. Seine Haltung wird von einer Ambivalenz geprägt, die letztlich die Seele korrumpiert.

Solange es sich bei dem „reichen“ Ausländer um einen Engländer, Italiener oder Franzosen handelt, ist es dem tschechischen Normalbürger mehr oder weniger egal. Dort tragen die Tatsachen keine anderen Bedeutungen. Bei einem Deutschen reagiert er anders. Hier verbinden sich seine aktuellen Erfahrungen sofort mit Traditionen und überlieferten Instinkten aus der Vergangenheit. Kaum etwas, was ein Deutscher in Böhmen tut, ist ohne historische Konnotation. Auch die Situation, daß ein „reicher“ Deutscher und ein „armer“ Tscheche sich gegenüberstanden, war schon einmal da und ist noch nicht vergessen. Hat nicht der Urgroßvater der sozialen Ungleichheit den Familienbetrieb abgetrotzt? Der soziale Aufstieg wurde damals als der Sieg der „tschechischen Sache“ national umgedeutet. Im Vergleich mit seinem Urgroßvater steht sein heutiger Nachfahre noch chancenloser da. Weder auf dem Wohnungs- noch auf dem Immobilienmarkt oder bei den Privatisierungsauktionen kann er mit dem (hinter einem Strohmann agierenden) Ausländer konkurrieren. Er fühlt sich in seinem genuinen Lebensraum eingeengt, eingeschnürt. Ist es nicht naheliegend, auch jetzt nach dem traditionellen Schema die wirtschaftliche Unterlegenheit als ein nationales Problem darzustellen? Diese Neigung wird um so stärker, je mehr der tschechische Normalbürger den Eindruck gewinnt, bei der Neuverteilung der materiellen Ressourcen zu kurz gekommen zu sein. In diesem Sinne wird der Erfolg oder Mißerfolg der wirtschaftlichen Reform auch an der antideutschen Stimmung zu messen sein. Sehr wahrscheinlich wird allerdings auf diesem dankbaren nationalen Feld, in der Diskussion über den Verkauf tschechischer Interessen an das deutsche Kapital mit versteckten Karten, auch der Feldzug gegen die Wirtschaftsreform geführt. Offen über sie zu diskutieren, ist in der Tschechoslowakei heutzutage fast unmöglich, wenn man sich der Diffamierung als Kryptokommunist nicht aussetzen will.

Zu der Anfälligkeit der tschechischen Gesellschaft für antideutsche Stimmungen trug allerdings mit einem Löwenanteil die unbewegliche Politik der Sudetendeutschen Landsmannschaft bei. Nach Havels mutigen Worten des Bedauerns über die Vertreibung, die in der Tschechoslowakei nicht ungeteilt positiv aufgenommen wurden, folgte von der Landsmannschaft keine vergleichbare Erklärung zu der Rolle der Sudetendeutschen im Vorfeld des Münchener Abkommens, sondern die Forderung nach der Rückgabe des konfiszierten Eigentums. Das Beharren auf den alten Positionen hat dagegen nur die alten Feindbilder bestätigt und der 'Rudé právo‘ eine späte Genugtuung beschert.

Keine Chance für Versöhnung?

Jeder, der die tschechoslowakische Situation nur etwas kennt, weiß, daß die Rückgabe des konfiszierten Eigentums nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern vor allem aus psychologischen Gründen nicht möglich ist. Weil die moderne tschechische Identität mit der Tradition der Ersten Republik fest verbunden ist, würde für die Tschechen die Rückgabe des konfiszierten Eigentums der Sudetendeutschen der Akzeptierung des Münchener Abkommens und der Zerstörung des selbständigen Staates gleichkommen. Einen solchen Identitätsverlust kann sich die tschechische Gesellschaft einfach nicht leisten. Sie braucht die Tradition des ersten demokratischen Staates als Stabilisierungsfaktor beim Aufbau der neuen Demokratie. Die Sudetendeutschen haben offensichtlich noch nicht begriffen, was das Münchener Abkommen für die moderne tschechische Gesellschaft bedeutete und immer noch bedeutet und was für eine Verletzung es für sie darstellt. Aber was weiß wiederum ein Durchschnittstscheche, was in den Jahren 1938 bis 1948 die Gemüter seiner sudetendeutschen Landsleute bewegte und welchen Frustrationen sie ausgesetzt waren?

So führen die beiden Partner auch zwei Jahre nach dem Fall der Mauer immer noch den Monolog mit der eigenen Erfahrung und Geschichte, wie sie ihn schon in dem geteilten Europa führten, führen mußten, weil es hier kein Gegenüber gab. Sich den Mühen des Dialogs auszusetzen, das heißt, sich kritisch mit der eigenen Rolle in der Geschichte auseinanderzusetzen und die andere Seite in ihrer Erfahrung ernst zu nehmen, dazu haben sie — noch — zuwenig Mut.

Soll man also die Versöhnung zwischen Tschechen und Sudetendeutschen für gescheitert erklären? Ja und nein. Sie fand schon statt in Hunderten von zwischenmenschlichen Begegnungen, nicht zuletzt auch in den Grenzregionen. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft, obwohl sie nur eine konservative Minderheit der Sudetendeutschen repräsentiert und außerhalb von Bayern über nur geringen politischen Einfluß verfügt, stellt aber den harten Kern für jedes Bemühen um Versöhnung zwischen den beiden Völkern dar, gerade deswegen, weil sie für die Tschechen den Geist des Münchener Abkommens verkörpert. Deswegen müssen auch die Versuche um die Verarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit immer wieder hier ansetzen, wo die Reibungsflächen zwischen den Partnern besonders rauh sind. Alena Wagnerová

Die Autorin lebt als freie Publizistin in Saarbrücken und Prag.