„Die Junta repräsentiert nur sich selbst“

Kurz vor dem Fastenmonat Ramadan steigt die Spannung in Algerien erneut/ Die Putschisten sind in der Klemme: Mageres Sozialprogramm statt Reformen/ FIS wartet „auf ein Rendezvous“  ■ Von Oliver Fahrni

Khaled aus Constantine würde gerne die 40 Hektar elterlicher Scholle unter den Pflug nehmen. Schwarze Erde, zwei Ernten pro Saison, und die Marktstände sind leer. Nichts zu machen: „Wo soll ich allein einen Traktor herkriegen? Habe alles versucht. Zuteilung, Importlizenz, Schwarzmarkt. Und bist du Rockefeller und hast einen Traktor, wo nimmst du Ersatzteile her? Saatgut? Wasser?“ Jetzt wird er Sportlehrer.

Im Hafen von Algier verrotten 233 Traktoren, Modell Fiat 80-75, unlängst mit einem italienischen Devisenkredit für das Programm „Arbeit für die Jugend“ erworben. Das importierende Amt löst die kostbare Fracht beim Zoll nicht aus. Bürokratisches Versehen? „Nein“, meint ein algerischer Journalist, „System. Da machen ein paar Kader Millionen. Unsere Form von Kapitalismus. Schau genau hin: Da fehlt die Kette, hier ist die Maschine ausgeschlachtet. Ein Ersatzteillager für den Schwarzmarkt, unter Zollaufsicht nota bene.“

Während nicht nur am Hafen die algerische Nomenklatura die Zukunft des Landes demontiert, strich Premier Ghozali dieser Tage das seit Wochen versprochene „Programm für den wirtschaftlichen Aufschwung“ zusammen. Der „Angriffs-Plan“ sieht im Kern eine Steigerung der Importe um 20 Prozent vor: Einige Milliarden Dollar, die der gelähmten Industrie auf die Beine helfen sollen, eine knappe Milliarde für den Bau von Sozialwohnungen und 1,9 Milliarden für Grundnahrungsmittel — das Agrarland Algerien produziert heute nicht einmal ein Viertels seines Eigenbedarfs. Ghozali versichert, die Finanzierung des Neun-Milliarden-Dollar-Paketes sei über neue Kredite (EG, IWF, Privatbanken, Golf-Finanziers) und über den Teilausverkauf der algerischen Erdölreserven an westliche Konzerne sichergestellt. Der algerische Rundfunk teilte mit, ein westliches Bankenkonsortium habe einen 1,5-Milliarden-Kredit bereitgestellt, damit Algerien wenigstens die Rückzahlung seiner 25 Millarden Dollar Auslandsschulden wiederaufnehmen könne.

Kein Wort mehr von der „Großen Reform“, die der provisorische Staatspräsident Boudiaf ausgemalt hatte. Gewerkschaften und Unternehmer sind enttäuscht. Der 'Quotidien d'Algérie‘ sieht „eine Regierung ohne Programm“ am Werk.

Die wirtschaftlichen Maßnahmen der Militärjunta zielen allein auf die Beruhigung der sozialen Front. Mit einem kleinen Sozialgeld und mit Nahrungsmittelimporten soll der latente Bürgerkrieg entschärft werden. Es könnte wieder unruhig werden, denn in wenigen Tagen beginnt der Ramadan. Tagsüber fasten die Gläubigen, und nächtens, wenn ein weißer Faden von einem schwarzen nicht mehr zu unterscheiden ist, werden die traditionellen Festmahle bereitet — sofern sich die Zutaten für Chorba, Brik und Couscous auftreiben lassen. Im Heiligen Monat ist die Wahrnehmung des eigenen Unglücks geschärft, die Nerven sind gespannt und die Seelen für mancherlei mystische Erfahrung offen. Letztes Jahr verhinderten die Islamisten im Ramadan mit knapper Not eine landesweite Hungerrevolte. „In einigen Tagen“, schreibt ein Kommentator, „ist Algier wie Nitroglycerin in Händen von Brandstiftern.“

Die algerische Militärjunta ist in einer paradoxen Situation: Sie hat die Islamische Heilsfront (FIS), die Ende des Jahres die Wahlen gewonnen hatte, zerschlagen, dem Volk aufs Maul gehauen, 150 Menschen umgebracht, zwischen 10.000 und 30.000 IslamistInnen in Internierungslagern in der Sahara eingesperrt — und weiß nicht weiter. An große Reformen kann sie nicht denken, weil sie dann an die Macht des militärisch-industriellen Komplexes rühren müßte, der im Januar putschen ließ. Ein historischer Kompromiß mit den IslamistInnen, die heute den Großteil der AlgerierInnen repräsentieren, würde dessen Alleinherrschaft gefährden.

Der enge Spielraum, in dem Boudiaf und Ghozali unter der Aufsicht von Nezzar operieren, wurde am Wochenende mit der Regierungsumbildung deutlich. Viele AlgerierInnen hatten den Rücktritt des Premiers, die Öffnung zu den Islamisten hin und ein neues Superministerium für Wirtschaft, Finanzen und Arbeit erwartet. Doch alle Schlüsselministerien des „Kriegs-Kabinetts“ blieben in den Händen der alten Mannschaft, das Superministerium verschwand in den Schubladen der Planer. Nezzar holte, mehr kosmetische Geste an die Adresse der ausländischen Kreditgeber als wirkliche Öffnung, den FIS-Dissidenten Said Guechi und den abtrünnigen Sozialdemokraten Nait Djoudi in die Regierung, auf untergeordnete Posten. Guechi, ein FIS-Mitgründer und reicher Händler, bekam das Portefeuille für Beschäftigung, seine Wirkungsmöglichkeiten werden jedoch durch den Fortbestand des alten Arbeitsministeriums neutralisiert. Djoudi, der frühere Zentralsekretär von Ait Ahmeds Partei FFS, darf sich um Transport und Kommunikation kümmert — Lohn dafür, daß er sich von Ait Ahmeds Kritik an der Junta distanziert hat. Ait Ahmed nannte die Regierungsumbildung „eine Manipulation“.

Die verweigerte Öffnung und das dünne Wirtschaftsprogramm treiben die Junta in die Isolation. „Die repräsentieren nur noch sich selbst“, sagt ein Sprecher der demokratischen Opposition, „und auch dies nur mit Widersprüchen.“ Der Anfang Februar von Ali Haroun („Hohes Staatskomitee“) versprochene, „große Konsultativrat“ blieb auf dem Papier. „Keine Macht“, erkannte Boudiaf am 16.Februar selbstkritisch, „weder diese noch eine andere, kann die Probleme lösen, wenn nicht alle AlgerierInnen bei der Rettung des Landes helfen.“ Er stellte eine „Nationale Sammlung“ in Aussicht, die nun mangels Beteiligung abgesagt werden muß.

Staatsratschef Boudiaf verkörpert diese Widersprüche. In den meisten Fragen steht der jüngst aus dem Exil importierte ehemalige FLN-Held gegen den militärisch-industriellen Komplex, dessen Junta er legitimieren soll. Boudiaf möchte etwa den Verbleib der 26 Milliarden Dollar Bestechungs- und Kommissionsgelder ermitteln, die die Nomenklatura eingesteckt hat. Seine Rede wurde von den Generälen zensiert. Vor allem aber weiß Boudiaf, daß ohne die IslamistenInnen nichts geht. Am 9.Januar hatte Boudiaf gesagt: „Die FIS ist die Wahl einer Mehrheit der AlgerierInnen. Gut oder schlecht. Ich verstehe in einem gewissen Sinne diese Option der Menschen für die FIS, weil es keine andere Lösung gibt.“ Doch der Staatspräsident konnte bei den Generälen nicht einmal die Öffnung zu der gemäßigten Islamistenorganisation „Hamas“ von Sheikh Nahnah durchsetzen. Die FIS-Chefs, die sich der Verhaftung bisher entziehen konnten, haben diese Widersprüche in der Junta erkannt und in diesen Tagen ihr Gesprächsangebot wiederholt. Derweil arbeiten sie am Wiederaufbau der Organisation. Mit einigem Erfolg, vor allem an den Universitäten. Nach den Überfällen der Truppen auf die Unis in Annaba, Constantine und Bab-Ezzouar haben die FIS-Studentenorganisationen starken Zulauf. „Wir sind am Überwintern“, sagt Hamid, ein untergetauchter FIS-Aktivist, „früher oder später muß die Junta das Volk abstimmen lassen. Wir werden pünktlich zum Rendezvous erscheinen.“