Zahnlöcher voller Sondermüll

■ In den Gebissen der Berliner landen jährlich 1,2 Tonnen Quecksilber - in Form von Amalgamplomben/ Kaugummikauen und Zähneknirschen erhöhen die Aufnahme des Gifts

Beabsichtigt oder unbeabsichtigt hat die chemische Industrie eine völlig neue Art von Sondermülldeponie entdeckt: Zahnlöcher. In die Ministollen der Berliner Gebisse dürften jährlich etwa 1,2 Tonnen Quecksilber, 800 Kilo Silber, 700 Kilo Zinn, 650 Kilo Kupfer eingelagert werden — in Form von Amalgam-Plomben. Die Bundeszahnärztekammer schätzt, daß 37 Tonnen unschädliche Edel- und giftige Schwermetalle 1990 in den Beißerchen der westdeutschen Patienten landeten. Doch der Widerstand gegen den Müll im Mund wächst.

Inzwischen warnt selbst das Bundesgesundheitsamt (BGA) vor dem sorglosen Anlegen der Mikrodeponien. Auf die quecksilberhaltigen Füllungen sollte bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion, bei Kleinkindern bis zum sechsten Lebensjahr und bei Schwangeren verzichtet werden. Und beim Rest der Zahnkranken sollten sogenannte Unterfüllungen gelegt und die Amalgamplomben — frühestens nach 24 Stunden — poliert werden. Der Zahnarzt sollte seine Praxisräume »gut lüften«.

Dennoch werden Amt, Zahnärzte und Krankenkassen nicht müde zu betonen, daß Symptome wie Kopfschmerzen, Nervosität oder Erkrankungen wie Krebs, Rheuma und Multiple Sklerose nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) »keinen Rückschluß auf Amalgamfüllungen als Ursache« erlaubten. Das Spachteln von Quecksilber in schadhafte Zahnstellen ist vom BGA nicht verboten worden — wie mißverständlicherweise in den letzten Wochen immer wieder berichtet wurde. Die Zulassung für das sogenannte Gamma-2-Amalgam wurde nur deshalb zurückgezogen, weil es einfach nicht so lange hält wie das »moderne« gamma-2-freie, das genauso schwermetallverseucht ist wie sein Vorgänger.

Nur eines bestreiten die Götter mit Bohrer nicht mehr. Wer die Schächte seiner Hauer mit Giftmüll abfüllen läßt, scheide beim Pinkeln mehr Quecksilber aus als ohne Amalgam. Wer Fisch verzehrt, nehme je nach Menge täglich acht bis 22 Mikrogramm organisch gebundenes Quecksilber, wer seine Zahnlöcher mit Amalgam stopfen läßt, täglich 3,8 bis 21 Mikrogramm anorganisches Quecksilber auf, heißt es in einem Bericht des BGAs. Zähneputzen, heiße Getränke, Kaugummikauen und Zähneknirschen erhöhten die Aufnahme. Der betroffene Organismus versucht das Gift über den Urin, aber auch den Kot, Speichel, Schweiß und selbst beim Ausatmen wieder loszuwerden. Doch hat das Schwermetall erst einmal das Zentralnervensystem erreicht, dauert es ein bis 18 Jahre, bis es sich selbst um die Hälfte abgebaut hat.

Trotz aller Vorbehalte bekommen Zahnärzte, die ihren Job nicht als Müllwerker begreifen, Schwierigkeiten. Derzeit laufen diverse Verfahren gegen zwei Berliner Zahnmediziner, weil sie sich weigern, Amalgam zu verwenden. Einer der beiden ist Ralf Girra. Je Quartal hätten die Krankenkassen ihm bis zu fünfstellige Honorare vorenthalten. Möglicherweise soll ihm auch seine Kassenzulassung entzogen werden. Girra bemängelt, daß mit dem Allergietest, den die Kassen anerkennen, nur bei jedem dritten Patienten, der Amalgam nicht vertrage, diese Unverträglichkeit auch festgestellt werde. Doch nur mit diesem Test bezahlten die Versicherungen die teureren Ersatzfüllungen — in der Regel Gold. Die Elektroakupunktur, mit der der Arzt eine Unverträglichkeit verläßlicher feststelle, werde von Schulmedizinern nicht anerkannt.

Beispielsweise habe eine 40jährige Patientin starke Gelenkschmerzen und Depressionen gehabt. Krankenhaus-Ärzte hätten nichts feststellen können. Mit seiner umstrittenen Elektroakupunktur habe er dagegen die Ursache in der Mundhöhle orten können, erläutert Girra. Nachdem er unter mehreren Goldkronen und Brücken versteckte Amalgamfüllungen entfernt habe, hätten sich drei Wochen später erste Besserungen ergeben. Inzwischen seien die Gelenkschmerzen verschwunden.

Soviel Glück hat aber nicht jeder Elektro-Diagnostizierte. Gertraud Soldau (40) hatte sich vor fünf Jahren ihre Quecksilberplomben herausbohren lassen. Der kreisrunde Haarausfall sei weggegangen, dann wiedergekommen. Wenigstens ihr Allgemeinbefinden sei seitdem besser. Welchen Beitrag die Entfernung der schwarzen Füllungen geleistet habe, sei unklar, »denn ich habe auch anderes für meine Gesundheit getan.«

Da bleibt nichts weiter, als der Empfehlung von Sylvia Dohnke- Hohrmann, beratende Zahnärztin der Gesundheitsverwaltung, zu folgen: ordentlich Zähneputzen und Zucker vermeiden. Über die Jahre würden nur halb soviel Löcher entstehen, sagt die Doktorin. Mit einem Gruppenvorsorgeprogramm sollen Kinder in Schulen und Kitas die richtige Zahnpflege lernen.

Und dann braucht man nur noch einen Dentisten, dem man trauen kann. Es kursieren Gerüchte, nach denen Zahnklempner Defekte finden, die es gar nicht gibt. Eine mißtrauisch gewordene Patientin ließ den Befund von einem anderem Arzt kontrollieren. Der guckte in den Mund und sagte: »Wieso bohren, da ist doch gar kein Loch.« Dirk Wildt