KOMMENTARE
: Vertane Chance

■ Zur Unterzeichnung des deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrages

Als Vaclav Havel im November 1989 das „Bürgerforum“ ins Leben rief, da war der Name der „revolutionären Organisation“ auch ihr Programm. Die Bürger der Tschechoslowakei sollten sich auf einem Marktplatz, einem Forum zu Dialog und Verständigung versammeln. Nicht allein Berufspolitiker, auch die Bevölkerung sollte über die Zukunft ihrer polis entscheiden.

Zwei Jahre später sind die Diskussionen um den deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag der bisher eindrücklichste Beleg dafür, daß dieser Versuch vorerst gescheitert ist. Denn der Vertrag ist ein Paradebeispiel an Geheimdiplomatie. In unzähligen Verhandlungsrunden zahlreicher Experten wurde er ausgekungelt, ohne daß Journalisten und Parlamentarier informiert wurden. Den Dialog mit den Bürgern über den Inhalt des Vertrages gab es nicht, und Vaclav Havel schien es nicht einmal für nötig zu halten, die Bevölkerung über sein weitreichendes Rückkehrangebot an die Sudetendeutschen zu informieren. Hierüber erfuhren Tschechen und Slowaken erst aus Berichten der deutschen Zeitungen.

Gerade auch die Jahre des deutschen Protektorats und die ihnen folgende „Aussiedlung“ von drei Millionen Deutschen ist ein Fall für die „Vergangenheitsbewältigung“. Wie soll eine Bevölkerung, der 40 Jahre lang beigebracht wurde, daß die „Aussiedlung“ eben die einzige Lösung gewesen sei, verstehen, daß diese in dem neuen Vertrag auf eine Stufe mit der Gewaltherrschaft der Deutschen in ihrem Land gestellt wird? Sie sehen die Aussiedlung als eine „verständliche Reaktion“ der Tschechen an. Als „moralisch verurteilenswert“ erscheinen ihnen allein die blutigen „Übergriffe“ einiger ihrer Landsleute. Und schließlich — darauf wird immer wieder nachdrücklich hingewiesen — ist die Vertreibung nicht nur von allen Parteien der Tschechoslowakei, sondern auch von den Alliierten genehmigt worden.

Havel hätte bereits im Frühjahr 1990 feststellen können, daß ein Großteil der Tschechen und Slowaken auf seine moralische Verurteilung der Vertreibung mit Unverständnis reagierte. Statt dessen versucht er nun die Unsicherheiten, die im Zusammenhang mit dem Vertrag in der Bevölkerung aufgetaucht sind, als das Ergebnis einer Kampagne der Kommunisten und derjenigen, die — so der Präsident in einem Gespräch mit deutschen Journalisten — sich selbst an den Verbrechen beteiligt haben, herunterzuspielen. Natürlich können selbst die Mitarbeiter der exkommunistischen 'Rude Pravo‘ nur schwer leugnen, daß sie in den letzten Wochen einen breit angelegten Feldzug gegen den Vertrag geführt haben. Möglich war dieser jedoch nur, da die Gelegenheit zu einem „historischen Bürgerforum“ nie genutzt wurde. Sabine Herre, Prag