Wimbledon der 64 Felder

■ Die männliche Schachelite schlägt sich in Linares

Berlin (taz) — Ein neues Wundermittel zur gedanklichen Aufpäppelung haben die Großmeister des Schach entdeckt: die Ehe. Der 22jährige Wassilij Iwantschuk beispielsweise galt lange als absolutes Nervenbündel. Vor großen Partien war er gelegentlich unfähig, einen Löffel Suppe zum Munde zu führen, ohne die Hälfte zu verschütten, wenn er auf den Zug des Gegners warten mußte, rannte er manchmal auf die Straße und vollführte vor den Augen der verblüfften Passanten gymnastische Übungen und einmal, als ihm der Denkprozeß seines Kontrahenten zu lange dauerte, schlug er hitzig auf den Gong ein, der eigentlich nur Anfang und Ende der Tagesveranstaltung verkünden sollte.

Seine schwachen Nerven kosteten Iwantschuk manche Partie, doch alles wurde anders, als er sich mit der neuntbesten Schachspielerin der Welt, Alisa Galliámowa, verheiratete. Einige Kollegen fänden es war zwar ziemlich „exzessiv“, als Schachprofi ausgerechnet mit einer Schachspielerin verheiratet zu sein, ihn jedoch habe es gerettet: „Vor vielen Jahren sagte Karpow einmal, ich könnte Weltmeister werden, wenn ich nur in der Lage wäre, meine Nerven zu kontrollieren; die Zeit und meine Heirat waren entscheidend dafür, daß ich dieses Problem in den Griff bekam.“

Iwantschuk ist der Titelverteidiger beim glänzend besetzten Turnier im spanischen Linares, dem „Wimbledon der 64 Felder“ ('El Pais‘), und er trifft dort unter anderen auf einen weiteren Profiteur des Ehestandes: Nigel Short. Der 26jährige Brite sieht die Sache allerdings von einer eher materiellen Basis aus: „Ich habe geheiratet und einen Sohn. Abgesehen von einer psychischen Stabilisierung hat das die Notwendigkeit mit sich gebracht, mehr Geld zu verdienen.“

14 Spieler sind in Linares am Start, dabei auch die Entdeckung des letzten Jahres, der 22jährige Inder Viswanathan Anand, nach seinem Triumph beim hochkarätigen Turnier von Reggio Emilia einer der Favoriten. Anand, einst für sein blitzschnelles Spiel berüchtigt, ist bedächtiger und dadurch noch gefährlicher geworden. „Ich habe gelernt zu denken“, macht er geltend, was allerdings nicht reichte, um erneut Garri Kasparow (28) ein Schnippchen zu schlagen. Dem Weltmeister gelang in der vierten Runde gegen seinen indischen Angstgegner ein Remis.

Wo Kasparow ist, darf natürlich sein Spiegelbild, der 40jährige Anatoli Karpow, nicht fehlen. Mehr als 800 Stunden haben sich die beiden schon am Schachbrett gegenübergesessen, in Linares bestritten sie ihr 161. Duell. Kasparow übte schon mit den ersten agressiven Zügen einen immensen Druck aus und gewann die Partie. „Ich ließ ihn nicht zum Atmen kommen“, freute sich der Mann aus Baku diebisch. Das Turnier zu gewinnen, wird jedoch selbst für den Weltmeister schwer werden. Bei den individuellen WM-Begegnungen seien Kasparow und Karpow den jungen Schachgenies aufgrund ihrer Erfahrung noch überlegen, sagt der Weltranglistendritte Iwantschuk, „aber in Turnieren wie diesem spielen die Jungen bereits ohne Furcht.“

Garri Kasparow sieht dem Ansturm der Jünglinge in Linares gelassen entgegen und denkt auch keineswegs ans Heiraten. Seine Methoden sind einfacher. „Ich weiß nicht, ob ich in großer Form bin“, erklärte er. „Ich setze die Figuren einfach dahin, wo es mir richtig erscheint, und dann stelle ich fest, daß sie großen Schaden anrichten.“ Prägnanter hat wohl noch niemand das Wesen des Schachspiels auf den Punkt gebracht. Ein würdiger Weltmeister. Matti

4. Runde: Kasparow (GUS)-Anand (Indien) Remis; Speelman (England)-Karpow (GUS) Remis; Short (England)-Ljubojevic (Jugoslawien) 1:0; Illescas (Spanien)-Jussupow (Deutschland) Hängepartie; Salow (GUS)

-Beljawski (GUS) Remis; Timman (Niederlande)-Barejew (GUS) 1:0; Iwantschuk (GUS)-Gelfand (GUS) 1:0; Tabellenstand: 1. Jussupow 3/1 Hängepartie; 2. Kasparow 3; 3. Beljawski, Gelfand je 2,5; 5. Illescas 2/1 Hängepartie; 6. Karpow, Iwantschuk, Timman je 2; 9. Anand, Barejew, Ljubojevic, Salow, Short je 1,4; 14. Speelman 1