„Ich will zu den Stärksten gehören“

■ Brigitte Heinrich war von 1982 bis zu ihrem Tod 1987 inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi/ Ihre politische Biographie und ihre möglichen Motive einer Zusammenarbeit mit der Stasi/ VON REINHARD MOHR

Das frühere Mitglied der „Regenbogenfraktion“ im Europäischen Parlament, die am 29.Dezember 1987 im Alter von 46 Jahren gestorbene Brigitte Heinrich, war seit 1982 „inoffizielle Mitarbeiterin“ des DDR-Staatsicherheitsdienstes. Nachdem der 'Spiegel‘ schon in seiner Ausgabe 35/1991 unter Berufung auf Aussagen des Stasi- Majors Eberhard Kind (Hauptabteilung XXII/8/1, „Linksextremismus/Linksterrorismus“) ihre Zusammenarbeit mit dem MfS gemeldet hatte, wurde nun aus dem Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden bekannt, daß dort zumindest große Teile einer „IM“-Akte von Brigitte Heinrich lagern. Brigitte Heinrich soll unter anderem aus der taz (Berlin) berichtet und „Personenprofile“ angefertigt haben. Was in der taz vom 27.August 1991 noch als perfides Gerücht zurückgewiesen werden konnte, läßt nun kaum noch Zweifel zu. Die Einzelheiten werden allerdings erst dann aufzuklären sein, wenn die „Betroffenen“ ihre Akten in der Gauck-Behörde einsehen können.

Brigitte Heinrich ist tot. Sie kann sich gegen Anschuldigungen nicht mehr wehren. Daß ihre Stasi-Akte nun ausgerechnet beim BKA liegt, das sie über ein Jahrzehnt lang tatkräftig verfolgt hat, ist ein doppelt bitterer Sarkasmus der Geschichte. Dennoch scheint es mir gerechtfertigt, ja, notwendig, diese Information jetzt zu veröffentlichen und zu versuchen, sie im Zusammenhang ihrer politischen Biographie vorläufig zu bewerten. Jenseits etwaiger Aktenvorgänge bin ich „Betroffener“: als undogmatischer Linker, der Brigitte Heinrich seit 1977 kannte und wie andere aus der Spontigruppe „Sozialistische Hochschulinitiative“ (SHI) an der Frankfurter Universität über Jahre hinweg versuchte, ihr zu helfen. Es kennzeichnet die politische wie persönliche Ambivalenz gegenüber Brigitte Heinrich, daß sämtliche befragten Ex- SHIlerInnen die Nachricht doppelt aufnahmen: erschrocken, aber nicht überrascht. Alle hielten sie für glaubwürdig.

Schweigen oder achselzuckende, zynische Nonchalance gegenüber dieser neuesten Nachricht aus der deutsch-deutschen Schlammschlacht würde die politische wie moralische Bankrotterklärung der Linken nur komplett machen. Wer jetzt mit der dummdreisten Losung „Klamauk im Hause Gauck“ ('diskus‘ 1/1992) die jüngste Vergangenheit zum Comic-Strip erklären will, hat sich längst auf die Seite derer geschlagen, für die die Anarcho-Parole „legal, illegal, scheißegal“ immer schon ein Aufruf zu moralischer Indifferenz war.

Brigitte Heinrichs politische Biographie begann 1966/67 als Pressereferentin des SDS-Bundesvorstands. 1970 besuchte sie Jordanien, wo König Hussein gerade das Massaker an Tausenden Palästinensern, den „schwarzen September“, befohlen hatte. Analyse und Bekämpfung des „imperialistischen Systems“ standen seitdem im Mittelpunkt ihrer wissenschaftlichen wie politischen Arbeit. Sie schrieb unzählige Artikel, Dossiers und Bücher über das Verhältnis der „ersten“ zur „dritten Welt“. Im Winter 1973/74 nahm sie einen Lehrauftrag für „Internationale Beziehungen“ der Frankfurter Universität an, der am 26.November 1974 abrupt beendet wurde. Im Zuge der Fahndungsaktion „Winterreise“ wurde sie vor ihrer Frankfurter Wohnung festgenommen. Fünf Monate verbrachte sie daraufhin in Untersuchungshaft. Mit Hilfe der Aussage eines zweifelhaften Zeugen, den das BKA später selbst fallenließ, warf man ihr die „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ vor. Obwohl die „Winterreise“ eine Aktion Wasserschlag war — alle 17 Verhafteten wurden wieder freigelassen —, prägten die 150 Tage „strenge Einzelhaft“ ihr zukünftiges Leben. In ihrem Hafttagebuch zitierte sie Brecht: „Die Starken kämpfen eine Stunde lang. Die noch Stärkeren kämpfen viele Jahre. Die Stärksten kämpfen ihr Leben lang.“ Spontan entschloß sie sich: „Das häng' ich mir an die Wand. Ich will zu den Stärksten gehören.“

Der Haftbefehl wurde auch nach ihrer Freilassung nicht aufgehoben, sondern immer wieder neu begründet. Ihre Gesundheit war angeschlagen, die Observation ihrer Wohnung und das Abhören ihres Telefons wurde fortgesetzt. 1977 kam sie über die Liste der SHI ins Studentenparlament, dessen Präsidentin sie bis 1982 blieb. Währenddessen war der Haftbefehl auf Unterstützung einer „kriminellen Vereinigung“ und Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz umformuliert worden. Laut Anklage vom 4.Oktober 1979 soll sie Ende 1973 in der Schweiz gestohlene Handgranaten und Tretminen über die grüne Grenze in die Bundesrepublik gebracht haben, die man später bei RAF-Mitgliedern fand. Im Strafprozeß vor dem Karlsruher Landgericht äußerte sie sich nie zu den konkreten Tatvorwürfen. Im privaten Gespräch allerdings konnte man den Verdacht gewinnen, daß Brigitte Heinrich womöglich eine grobe Dummheit begangen hatte.

Der Prozeß jedoch wurde zum Anschauungsunterricht der Dehnbarkeit des Rechts auch im Rechtsstaat: Zeugen der Aklage wurden nicht vor Gericht vernommen, während ein Schweizer Entlastungszeuge, dem freies Geleit zugesichert worden war, kurzerhand verhaftet wurde. Die SHI-Mitglieder, die ein dreiviertel Jahr lang über Prozeßstrategien diskutierten, zu den Verhandlungstagen nach Karlsruhe fuhren, Öffentlichkeitsarbeit machten und Brigitte Heinrich immer wieder Mut zusprachen, waren am Ende ebenso düpiert wie die Angeklagte, als das Gericht die „kriminelle Vereinigung“ schließlich ganz strich und wegen des zweiten Anklagepunkts auf 21 Monate Haft ohne Bewährung erkannte. Nachdem die Revision verworfen worden war, mußte Brigitte Heinrich 1982 ein knappes Jahr ins Gefängnis, den größten Teil als „Freigängerin“. Als Auslandsredakteurin arbeitete sie 1982/83 dann in der taz. Im Frühjahr 1984 zog sie über die grüne Landesliste Hessen ins Straßburger Europaparlament ein.

Obwohl sie sich mitten in der linken Frankfurter Szene bewegte, blieb sie auf merkwürdige Weise isoliert. Sie hatte Bekannte, Freunde und Genossen in aller Welt — bei der PLO, dem ANC, der FMLN-FDR, in iranischen, baskischen, kurdischen, türkischen und chilenischen Gruppen — aber selbst mit denen, die sie in schlimmen Stunden begleiteten, entwickelte sie keine wirklichen Freundschaften. Trotz — oder wegen — aller Schwächen und (ver)zweifelnder Gedanken gab es in ihr ein striktes linkes Über-Ich, dessen Ge- und Verbote ihr möglicherweise zum Verhängnis wurden.

Ich erinnere mich an eine Szene, die ich nie mehr vergessen konnte. Es muß noch vor ihrem Strafantritt Anfang 1982 gewesen sein. Wir waren zu zweit beim Griechen um die Ecke, es ging ihr sehr schlecht. Sie sagte, daß sie einfach nicht mehr könne, sie sei körperlich wie psychisch am Ende. Und sie habe Angst. Ich versuchte etwas hilflos, sie zu trösten. Es fiel mir besonders schwer, weil ich mit dieser unmittelbaren Hilflosigkeit bislang nicht konfrontiert war. In diesem Augenblick kam eine mir kaum vom Sehen bekannte Frau an den Tisch, setzte sich und redete umstandslos und ohne Pause auf Brigitte Heinrich ein: „Du kannst doch jetzt nicht aufgeben. Der Kampf geht weiter. Oder meinst Du, daß es nicht auch anderen mal schlecht geht. Schau dich in der Welt um. Wir wissen doch, wieviel es noch zu tun gibt. Du mußt stark sein, stärker als die anderen...“ In diesem Stil, keine Phrase auslassend, ging es Schlag auf Schlag, während ich dachte: das darf doch wohl nicht wahr sein. Ich fand keine Worte mehr, und als wir uns trennten, spürte ich, daß die Phrasen bei Brigitte Wirkung gezeigt hatten. Ihr ging es jedenfalls wieder besser. Ich lief tief depremiert nach Hause.

Das gleiche Gefühl hatte ich noch einmal — sechs Jahre später —, als die Trauerfeier für Brigitte Heinrich zum revolutionären Pontifikalamt zelebriert wurde, das verlogener war als jeder Staatsakt. Zweieinhalb Stunden lang verlasen internationalistische Repräsentanten aus der ganzen Welt „Grußbotschaften“, deklamierten Schauspieler leeres Pathos zu Gospel- und Gitarrenklängen, und Jassir Arafat hatte eigens einen Kranz geschickt. Der niederländische Europaabgeordnete Herman Verbeek brachte es auf den Punkt: „Brigitte gedenken heißt: wissen und sich entscheiden, daß der Kampf der Befreiung uns fordert bis zum Tod.“

Damals versuchte ich, Brigitte Heinrich gegen dieses widerliche Schauspiel zu verteidigen, und schrieb in der taz: „In den uferlosen Hymnen auf die Tote wurde eine namenlose Kälte spürbar, die so weit vom Prinzip Hoffnung entfernt ist wie der Tod vom Leben.“ Heute ahne ich, daß ich mich geirrt habe. Die Feier der unsterblichen Weltrevolution hätte ihr wahrscheinlich doch gefallen — wie ihrem langjährigen Freund Klaus Croissant, der sie organisiert hatte.

Brigitte Heinrich wurde, so schließe ich, spätestens Anfang 1982, noch vor ihrem Haftantritt in Frankfurt- Preungesheim, vom MfS kontaktiert und zur Mitarbeit gewonnen. Wenn ich nicht völlig irre, waren das die Tage, in denen die größte Schwäche mit dem tiefsten Bedürfnis zusammentraf, stark zu sien. Ob sie — wie Till Meyer — nach wie vor „voll Haß“ auf das System war, weiß ich nicht. Sie wollte es jedenfalls auf ihre Weise weiter bekämpfen. Wenn sie dabei (Ex-)GenossInnen, Freunde, Bekannte und Kollegen in Frankfurt, Berlin, Straßburg, Brüssel und anderswo ausspioniert, „eingeschätzt“, verraten und an die Stasi verkauft hat, um dem „imperialistischen System“ zu schaden, habe ich dafür kein Verständnis, keine Entschuldigung mehr.

Wenn die gesamte Analysekapazität eines bestimmten Teils der radikalen Linken, ihre weltweiten moralischen Ansprüche, ihr unerschöpflicher Empörungsvorrat und Aktionismus exakt an der Elbe endete, wenn daraus im Einzelfall sogar eine strategische oder taktische Zusammenarbeit mit revolutionären Lichtgestalten wie Mielke, Honecker und Krenz erwuchs, dann ist die gesamte westdeutsche Linke Antworten schuldig. Ihre bisherigen Reaktionen lassen wenig Hoffnung auf eine neue, offene Rückschau zu, die das Trauerspiel wenigstens im Nachhinein erhellen könnte.