■ Stadtmitte
: Das Parlament bleibt in Distanz zu Berlin

Das Parlament bleibt in Distanz zu Berlin

Wer durch das Bonner Parlaments- und Regierungsviertel geht, könnte meinen, den Hauptstadtbeschluß vom 20.6. 1991 habe es nie gegeben. Auf den ersten Blick scheint sich in Bonn nichts geändert zu haben. Stolpert man über die vielen Baustellen am Bundestag, so verstärkt sich der Eindruck, daß hier der Grundsatz gilt: »Bonn — jetzt erst recht!« Tatsächlich herrscht ein Klima von Verdrängung, Trotzhaltung und Zukunftsängsten.

Vor drei Wochen ist die dürftige Ladenzeile am Abgeordneten-Hochhaus geschlossen worden. Im Augenblick wird sie abgerissen. Danach wird der Bau für den neuen Abgeordneten-Bürotrakt begonnen. Fertigstellung soll voraussichtlich 1998 sein. Das ist genau der Termin, an dem wahrscheinlich der Umzug nach Berlin stattfinden soll. Wie ist das zu interpretieren? Bedeutet das, in Wirklichkeit will niemand nach Berlin umziehen, und deshalb werden neue Pflöcke in Bonn eingeschlagen? Es ist wohl eher ein Ausdruck der typischen Halbherzigkeit und Unentschlossenheit der Bonner Politik. Der Ältestenrat hat beschlossen, die sogenannten »Schürmann-Bauten« zu Ende zu bauen, allerdings mit einem reduzierten Standard und einem Ausbau, der zukünftig eine flexible Nutzung zuläßt. 600 Millionen Baukosten wofür? Um keinem weh zu tun? Um die Illusion in Bonn aufrechtzuerhalten: »Es wird alles halb so schlimm?«

Der sogenannte »Kroppenstedt- Bericht« der Bundesregierung ist ähnlich gestrickt. Durch den Hauptstadt-Beschluß wurde der Bundesregierung die schwierige, aber auch interessante Aufgabe gestellt, ein Umzugsmodell zu entwickeln und dennoch die Mehrheit der Beschäftigten in Bonn zurückzulassen. Welche Chance hätte gerade in diesem Teil des Beschlusses gelegen: Eine dringend nötige Reform der Bundesverwaltung hätte angepackt werden können.

Beamte des Innenministeriums hatten tatsächlich einen vernünftigen Vorschlag gewagt, nämlich die horizontale Teilung der Ministerien: Ministerialaufgaben nach Berlin und verwaltende Teile der Administration als Bundesbehörden in Bonn. Dieser vernünftige und strukturell richtige Vorschlag scheiterte schon auf der Staatssekretärsebene. Die Bonner wollten auf jeden Fall richtige Ministerien. Das ist Selbstbetrug. Nur organisatorisch eigenständige Bundesoberbehörden können für Bonn Arbeitsplatzgarantien auf Dauer bieten. Jeder weiß, die jetzt festgelegte Teilung der Regierung kann keinen Bestand haben. Aber erst einmal ist ein Konflikt mit Bonn hinausgeschoben.

Der Hauptstadt-Beschluß legte den Bundestag darauf fest, in vier Jahren seine Arbeitsfähigkeit in Berlin herzustellen. Diese Feststellung wurde gekippt, weil es dem gewöhnlichen Abgeordneten aber zuzumuten wäre, in Provisorien und zwischen Baustellen in Berlin zu arbeiten. Aber in Bonn nimmt man in Kauf, daß ein großer Teil der Abgeordneten bis zum Umzug in Containern arbeitet. Monatlich werden neue Baustellen eingerichtet. Der Bundestag wird in den nächsten Jahren von Baustellen geradezu umzingelt sein. In den Fraktionen wird kaum über den Umzug nach Berlin gesprochen. Wenn der Bundestag — wie jetzt im Mai — in Berlin tagen soll, wird schon die Ankündigung in den Fraktionen mit Fluchen und Stöhnen begleitet. Zur Zeit wird der Bauwettbewerb für den Reichstag vorbereitet. Im nächsten Jahr soll der mehrjährige Umbau beginnen. Für viele Abgeordnete die beste Garantie dafür, für lange Zeit in Berlin nicht tagen zu müssen. Der Umbau der Hauptstadt Berlin für Parlament und Regierung wird von den Abgeordneten und Beamten nicht miterlebt und nicht miterlitten werden. Man kann sich noch für eine längere Zeit einreden, in Deutschland habe sich nichts geändert. Den Umbau Berlins überläßt man der Konzept- und Baukommission, das Parlament bleibt in gehöriger Distanz.

Gerd Wartenberg ist Bundestagsabgeordneter, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und stellvertretender Vorsitzender der Konzept- Kommission zum Hauptstadt-Umzug. In der Stadtmitte schreiben Persönlichkeiten zu Problemen der zusammenwachsenden Stadt.