Im Dunkeln getappt

■ Das Stück »Ich bin die Nacht« im Modernen Theater Berlin

Wer gewaltsam zertrampelte Spuren zu lesen versucht, muß schon sehr genau hinschauen, muß geduldig nach Anhaltspunkten und Zeichen suchen, Lücken und Leerstellen durch eigene Schlüsse überbrücken, beziehungsweise füllen. Selma Meerbaum-Eisinger war 18 Jahre alt, als sie 1942 im Arbeitslager Michailowska an Typhus starb; als Zeugnis ihrer kurzen Existenz blieb der Nachwelt eine Sammlung von Gedichten erhalten, die von einer Freundin nach Israel gerettet werden konnten. Sie erzählen, in einer ungewöhnlich reifen Sprache, vom Alltag der jungen Frau, von ihrer ersten großen Liebe, ihrer Liebe zur Natur und ihren Träumen, aber auch von der Bedrohung durch die Nazis und der schrittweisen Zerstörung ihrer Hoffnungen.

Wenn nichts übrigbleibt als ein paar Gedichte, bleibt einzig die Phantasie, will man das Leben der Verfasserin rekonstruieren. Wer war sie? Wie hat sie gelebt? — Fragen, die offenbar auch Tanja Neumann beschäftigt und zu dem Theaterstück Ich bin die Nacht angeregt haben. Das Ergebnis ist äußerst ärgerlich. Der Hintergrund der Dichterin, aber auch ihre Erfahrungen und Empfindungen sind als Sammelsurium belangloser Beliebigkeiten in Szene gesetzt worden: Die jüdische Kultur soll durch die Worte wie »meschugge« und »Mischpoke« repräsentiert werden; ein Rabbi singt »Hawa Nagila« und kommt wie ein Schwachkopf zur Tür hereingetanzt; Auftritt: ein Zionist. Diese aus jeglichen Sinnzusammenhängen gerissenen Zutaten wurden zu allem Überfluß mit jiddisch-folkloristischer Musik der Klezmatics abgerundet. In den unzähligen Umbaupausen ertönen sie vom Band. Ähnlich undifferenziert und einfallslos ist die Darstellung der Gefühlswelt der jungen Dichterin. Ist sie glücklich verliebt, hopst sie singend durchs Zimmer, ist sie verzweifelt, durchschreitet sie den Raum in Pina-Bausch-Manie. Die Banalität der Handlung steht in keinem Verhältnis zur Dichte der Lyriktexte, die sie umrahmen soll, und wird ihnen ebensowenig gerecht wie die eingefügte Metaebene, auf der alleinige allegorische Gestalten über die Kunst und das Leben philosophieren. Die Höhepunkte des Stückes sind zweifellos die Gedichte selbst. Ihre Auswahl ist zwar nicht immer einsichtig — neben Gedichten von Meerbaum-Eisinger rezitieren beziehungsweise zitieren die Schauspielerinnen Texte von Hofmannsthal bis Bachmann —, zeugt jedoch zumindest von einem sicheren Geschmack. Alles in allem ließe sich damit ein guter Lyrikabend gestalten. Sonja Schock