Armes Amerika

John Steinbecks „Früchte des Zorns“, dramatisiert in Wuppertal  ■ Von Gerhard Preußer

Amerika, du hast es besser“, meinte schon Goethe, ohne es zu kennen. Amerika war und ist Europas größte Projektionsfläche für Wünsche und Ängste. Dagegen hilft nur: Kenntnis. Amerika, du hast es auch nicht besser, weiß man nach der Wuppertaler Aufführung.

Wirtschaftsflüchtlinge auf dem Treck, zusammengepfercht in Lager, ausgenutzt als Streikbrecher — John Steinbecks Roman ist ein amerikanischer Alptraum, der auf genau recherchierten Fakten beruht. 1939 rüttelte er mit alttestamentarischem Pathos und sozialem Ethos das Gewissen der Nation wach. 1989 bearbeitete Frank Galati, Leiter der Steppenwolf Theatre Company aus Evanston, Illinois, den Roman und war mit seiner Inszenierung so erfolgreich, daß sie aus der Provinz an den Broadway geholt wurde. Eine Sozialschnulze aus den dreißiger Jahren, das wirkt am Broadway heute pharisäerhaft: Seht, wie weit wir es seitdem gebracht!

Romandramatisierungen sind heute eigentlich anachronistisch: Lesefaule sehen heute fern oder gehen allenfalls ins Kino. Doch dieser amerikanische Antimythos scheint sein Publikum zu finden, auch in Wuppertal. Hier wäre seine Chance: Utopiekorrektur.

Es geht ums Ganze, zeigen kann man nur einen Teil, das ist das Dilemma der Sozialkritik mit den Mitteln der Kunst. Steinbeck löste es durch eine Art Montagetechnik. Die Familiengeschichte der Joads, landvertriebener Bauern aus Oklahoma, die mit Kind und Kegel nach Kalifornien ziehen, ist durchschossen von reflektierenden Kapiteln, die das Schicksal der Joads verallgemeinern. Für diese reflektierende Ebene des Romans hat Galatis Bühnenbearbeitung keine Mittel. Was bleibt, ist eine Familiensaga mit herzzerreißender Elendsromantik. Der klapprige Lkw der Joads rollt über die Bühne wie einst Mutter Courages Planwagen bei Brecht, aber dies hier ist ein episches Theater ohne Distanz. Die Gesellschaftskritik verdampft in heißes Mitgefühl, ein Rührstück, kein Lehrstück.

Die Wuppertaler Inszenierung Paolo Magellis streicht die letzten Reste von Reflexion, die kommentierenden Erzählerfiguren, aus dem Stück und versucht ihm statt dessen eigene dramatische Effekte abzugewinnen. Im Stockdunkeln glimmt zu Beginn ein Funke, pulsiert im Rhythmus menschlichen Atmens. Dann zeigt sich ein zweiter Glimmpunkt im Nichts: zwei Raucher im Tal der Finsternis. Tom (Nikolaus Kinsky), aufsässiger Sohn der Joads, begegnet Jim Casey (Siegfried W. Maschek), einem desillusionierten Wanderprediger. Später, nach seiner Bekehrung zu Steinbecks säkularisiertem Evangelium der Solidarität und nach Caseys Märtyrertod, wird Tom sagen: „Ich bin überall, wo es dunkel ist.“ Und dunkel ist es in der Inszenierung ziemlich oft. Die Metapher wird ausgespielt bis zur Grenze des feuerpolizeilich Erlaubten.

Im deutschen Theater geht es natürlich auch nicht ganz ohne Verfremdungseffekt: Die Inszenierung erfindet eine Frau, die durch mehrere Szenen irrlichtert, ohne klare Identität. Immer wieder reizt sie Al, Toms jüngeren Bruder, auf. Sie zeigt ihm einen Fernseher und spricht die Worte der darin ablaufenden Liebesszene nach. Sie hält ihm eine Banane provokativ vor die Nase und schlägt ihn damit ins Gesicht, als er zugreifen will: eine Chimäre des vergeblichen Begehrens, eine Chiffre für die sich entziehende Utopie, das Medienglück.

Vergeblich bemüht sich die Inszenierung, dem Mitleidsmelodram kritische Distanz wiedereinzumontieren. Am besten ist sie dort, wo sie sich bedenkenlos in den Niederungen des Erzähltheaters suhlt: bei der Heimkehr des verlorenen Sohnes Tom, als alle Familienmitglieder sich auf ihn stürzen und sich mit ihm im unfruchtbaren Staub Oklahomas wälzen, bei der Beerdigung von Großvater Joad, als alle im stummen Ritual, einem Totengedächtnistanz, die Erde auf dem Grab feststampfen, und wenn der Wagen über die Bühne rollt zu mild bewegter Country-and- Western-Musik: Theater wie im Kino.

Wirkungslose Distanzierung bestimmt auch das Ende. Nach der schon bei Steinbeck und Galati unerträglich sentimentalen Schlußszene— die junge Rose Joad gibt nach einer Totgeburt einem verhungernden Landstreicher die Brust — flackert im Hintergrund eine Flammenwand auf, und dahinter erkennt man über die ganze Bühnenbreite eine Reihe von Waschmaschinen und Fernsehern. Langsam drehen sich die übriggebliebenen Mitglieder der Familie Joad um und starren die verheißungsvolle Konsumwelt jenseits des Feuerwalls an. Traum bleibt Traum, die Wirklichkeit kann ihn nicht widerlegen.

Frank Galati nach John Steinbeck:

Früchte des Zorns. Wuppertaler Bühnen (Schauspielhaus). Regie: Paolo Magelli. Ausstattung: Jean Bauer. Mit Siegfried W. Maschek, Nikolaus Kinsky, Jörg Reimers, Eike Gercken

Weitere Aufführungen: 1., 7. und 25.März