ZWISCHEN DEN RILLEN: The Incredible String Band: Surreale Episoden, lüsterne Grotesken

Um weltlich zu sein, muß man mal eine Kirche von innen gesehen haben; und wer das Versprechen auf ein ewiges Leben so eben verworfen hat, stürzt sich mit umso größerem Genuß in dunkle Gassen und verrauchte Hallen. Schottische und irische Folkmusik lebt aus diesem Antagonismus von Reue und Genuß, und die Milieus und Genreszenen dieser Musik sind deshalb so rührend greifbar geblieben: Hafen und Bar, Krieg und Grab, Verführung und verlorene Liebe, Tanz und Gesang. Es sind nicht notwendig individuelle Erinnerungen, die die Authentizität von Folkmusik ausmachen; in der Regel sind es kollektive. Deshalb ist der Kreis der Zuhörer begrenzt. Wird Folk zu Rock, verliert er sein Milieu (und seine Genres).

Es gibt, glaube ich, nur eine Band, die aus dem Folk kam und erfolgreich war, ohne ihn zu musealisieren oder abzustreifen: The Incredible String Band, eine Formation in rapide wechselnder Besetzung, deren Kern allerdings die Songwriter Robin Williamson und Mike Heron darstellten, von der Gründung 1965 in Glasgow bis zur Zerstreuung in alle Winde im Jahre 1974.

Liquid Acrobat As Regards The Air (1971) war ihre neunte Platte, ihre zweite auf dem Island-Label und wahrscheinlich ihre beste jemals. Jahrelang vergriffen, ist sie nun als CD wiedererschienen. In einem Durchgang gespielt, hört sich die Platte an wie ein Soundtrack oder eine Oper: mit List wechseln die Tempi und Klangfarben, und die Übergänge zwischen den Songs wirken sogartig.

Auffälligstes und eingängigstes Stück ist Adam and Eve, ein mit Hilfe von Robin Williamsons blechern geschlagener E-Gitarre locker gedrechselter Reggae, der die Begegnung zweier Menschen unterschiedlichen Geschlechts in einem gewissen Garten mit renitenter Frivolität nacherzählt — eine lüsterne Groteske. Sentenz am Schluß: „friends if you're travelling/ never go taking an apple from a snake/ if you do I'll tell you true/ you make a big mistake“.

Dabei hat Incredible kaum eine Verführung oder Reise ausgelassen: die Banjospielerin blieb gleich nach der ersten Platte in Afghanistan. Ende der sechziger Jahre findet man die Band als Kommune in der schottischen Wildnis; der Drogenverbrauch hat abgenommen, die Fähigkeit zur Verschmelzung von Rhythmen und Klangfarben zu. In Cosmic Boy lockt Likky McKechnie mit Bonbonstimme zu Mike Herons verliebt tänzelnden Pianophrasen; der Evolution Rag erzählt in großväterlicher Heiterkeit eine surreale Episode über Leute, die in die Höhlen der Vorzeit eindringen und später entdecken müssen, daß sie den Lageplan zu gut versteckt haben. Das „r“ wird ländlich gerollt; Mandoline, Kazoo, Orgel, Percussion und eine „swanee whistle“ sind die Instrumente.

Die Stimmen: Herons drängender Tenor (der in wenigen Augenblicken an Cat Stevens erinnert — übrigens wird nur Heron in den Kredits mit Zunamen genannt); Robins beweglichere Stimme, deren gebrochene Farbe viel von den Traditionen des Folk aufgesogen hat; Likkys absurd forcierter Kleinmädchensopran, mit warmem Atem; und Malcolms etwas tiefere Lage, die die mehrstimmigen Sätze mit Volumen füttert. Nie ist der Duo- oder Gruppengesang von jener gewollt-naiven Perfektion, wie sie konventionelle Folkgruppen auszeichnet, wenn sie auf Platte gehen. Einsätze werden verzögert, Phrasierungen überzeichnet: das Ohr der Singenden bleibt immer orientiert am Ganzen eines Stücks, und die Stimmen scheren aus, markieren dessen Wölbungen, Hohlräume und Risse.

So verwebt die Incredible String Band die Einflüsse eines Jahrzehnts, das hinter ihr liegt: das Flirrende des indischen, das Jaulende des nahöstlichen Raums, das Zerfledderte der psychedelischen Musik, und die kernige Materialität des heimischen Folkrock. Spuren von Boogie-Woogie, Reggae, Beat. Aber gravierender ist, daß sie auch der Vokalmusik der Renaissance die Architektur abgelauscht haben. So wie jemand, der alles gehabt hat, sich seine Kirche von innen baut. Mit verlorenem Georgel endet die Platte: das phantastische 11-Minuten-Stück Darling Bell zitiert noch einmal die Motive, Kindheit, erste Liebe, Kriegskameraderie — und die Einsamkeit der Witwen.

Bei der CD fehlen leider die Texte, deren Qualität in „schönen Stellen“ liegt: „hissing louder than rustling dresses of gracious ladies bustling by“. Viel schlimmer: in fast allen leisen Momenten der Platte, auch an den Songenden kommt ein — wenn auch noch so geringes, so doch hörbares — gläsernes Kreischen auf. Irgendetwas ist bei der Übertragung der Bänder ins Digitalsystem schiefgegangen. Man möchte hoffen, daß die Plattenfirma die Sache nochmal angeht. Überhaupt, eine Gesamtedition der sieben Platten auf Elektra würde den Warner-Brothers-Konzern gewiß nicht ruinieren. Und Island müßte gleich nachschieben mit Earthspan (1972), einer Platte, die die Verve von Liquid Acrobat... fortträgt zu anderen Schauplätzen.

The Incredible String Band: Liquid Acrobat As Regards The Air. Mit Robin Williamson, Mike Heron, Caroline „Likky“ McKechnie und Malcolm Le Maistre. 1971 (reed.), Island, IMCD 130 - (848 749-2)

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