Enkel der blauen Stunde

Jan Fabres „Bic Art“ in Hannover  ■ Von Michael Stoeber

Eine Kolonnade aus Körpern in V- Form. Barfüßige Tänzerinnen in Ritterrüstungen, ihre Hände durch Ballettslipper aneinandergebunden. Bewegungen im Zeitlupentempo, lange Pausen, Stillstand, Schweigen, mathematische Arrangements. Man hört die Tänzerinnen atmen, sieht die Muskeln zittern. Die Zurichtung der Körper wird nie durch wirbelnde Virtuosität weggelogen. Die dynamischen Posen bewegungsloser Figuren sind eingetaucht in ein ozeanisches Bühnenblau. Tableau vivant und Gruppenskulptur, mönchisch und minimalistisch, das ist Jan Fabres Tanztheater Das Glas im Kopf wird vom Glas, erster Teil einer bis 1995 geplanten Operntrilogie.

Szenenwechsel: Ein Strom von Bildern ergießt sich über das Theater, ein irrer, wirrer Bilderbogen aus Comic Strip und Klassiker, aus Videoclip und Werbetext, Zitate von van Gogh bis Goethe, von Marilyn bis Mickey Mouse. Ein streng choreographiertes Chaos, das um zwei philsophierende Rollstuhlfahrer herum eine halluzinatorische Orgie aus Traum und Kitschbildern, aus Sinn und Unsinn, Obszönitäten und Oratorien produziert, fast vier Stunden lang, wider alle Regeln dramaturgischer Spannung und theatralischer Zeit. Autor und Regisseur: Jan Fabre.

Szenenwechsel: Jan Fabre stellt in Hannover aus. Der manische Blaukritzler, der sich schon als 20jähriger selbstbewußt in Namensumkehrung des von ihm geschätzten Surrealisten Dali zum „Ilad of Bic Art“ ausrief, wobei der Gleichklang von „Bic“ und „Big“ das stolze Sendungsbewußtsein wohl auf den Punkt bringen sollte.

Die Glastür, auf die der 33jährige mit seinen Händen die berühmte Kugelschreibertinte gerieben hat, weist den Weg in die Hannoveraner Ausstellung. Man macht ein großes Ohr aus, dessen Umrisse aus den blauen Fluten tauchen. Das Ohr ist für Fabre so etwas wie ein persönliche Allegorie seiner Kunst. Das wird deutlich, wenn er vom „Bic Blue“ als einer sehr ruhigen Farbe spricht, die aber, wie er sie aufträgt, sehr viel Lärm verursachen kann. Dabei geht es ihm keineswegs um den Farbklang als universale ontische Größe. Fabre sieht nicht nur, er hört auch mit aller Macht auf die Stimmen dieser Welt, die er als gestimmten Gesang oder kreischende Kakophonie in den Medien ertönen läßt — in der changierenden Phänomenologie der Farbe blau und in ganz unterschiedlichen Medien.

Der junge Künstler, Shooting-star des internationalen Kunstbetriebs und von manchen als Rimbaud der bildenden Kunst gehandelt, hat eine erstaunliche Karriere und schon ein umfangreiches Oeuvre vorzuweisen: Buchpublikationen ebenso wie Experimentalfilme, Theater- und Opernproduktionen, Skulpturen und Objekte, und vor allem seine berühmten Blaubilder. Er war bereits 1984 für den belgischen Pavillon auf der Biennale in Venedig zuständig und wird dieses Jahr seinen zweiten Auftritt auf der documenta in Kassel haben. Rastlos schraffiert er, oft mit mehreren Bic-Kugelschreibern bewehrt, über Papier; ebenso rastlos stellt er sich der Herausforderung neuer Unternehmungen.

Nach eigenem Bekunden zeichnet Fabre immer. Ob er kleine Formate mit dem feinen Netzwerk blauer Linien überzieht oder mit Helfern einen monumentalen Seidenvorhang oder klotzige Schränke bläut, ob er ganze Schlösser einstrichelt wie das Tivoli im belgischen Mechelen, alles ist für ihn Zeichnung. Ist der Untergrund zu glatt, wie bei Glas oder Email, taucht er seine Hände in die Tinte. Auch das Theater sieht er als eine Fortsetzung des Zeichnens mit anderen Mitteln.

Die Ausstellung in Hannover trägt bereits alle Züge einer Retrospektive, allerdings ohne so zu heißen. Da finden sich frühe Zeichnungen des knapp 18jährigen aus dem Jahr 1975, wundervoll zarte Tuschezeichnungen von Phantasieinsekten mit behutsamen poetischen Titeln (Sleep, sleep, little animals), die noch nichts von der blauen Manie wissen. Aber das Sujet weist bereits den Weg. Es erzählt von dem anekdotischen Mythos, Fabre habe zu seinem blauen All-Over gefunden, indem er den Weg eines Insekts auf einem Papier halb in Gedanken mit dem Kugelschreiber verfolgt habe. Oder es erzählt von dem Urgroßvater Jean Henri Fabre, eines Insektenforschers, von dem der Begriff der „blauen Stunde“ stamme: Jener Punkt in der Dämmerung, wenn die Nacht noch nicht zu Ende und der Tag noch nicht begonnen hat, jener Punkt, an dem die Unsichtbarkeit in Sichtbarkeit umschlägt, so wie die Bilder Fabres aus der L'heure bleue- Serie auf der Grenze zwischen zwei Monochromen verweilen, nicht mehr weiß und noch nicht ganz blau.

Es sind Bilder zu sehen aus dem Jahre 1986, aus deren gestricheltem Blau der Umriß von Fröschen, Fledermäusen oder Pfauen wächst. Zu sehen sind die Zeichnungen von Wasserpfützen, die phantasmagorischen Fabelwesen gleich als kompakte Schatten auf einem blauen Kopfsteinpflaster erscheinen; sehr kalkuliert und sehr präzise ausgeführt mit großer zeichnerischer Kraft.

Dann die Bilder aus der Different Hours-Serie, die documenta-Leiter Jan Hoet unter anderem in Tokio ausgestellt hat. Bizarr symmetrische, tiefblaue, schattenlose Gebilde wie seltsame Schmetterlinge, die an die geklecksten Projektionsflächen von Rohrschachttests erinnern. Gehängt sind die Bilder in ein und demselben Raum und in geglückter Opposition zu Fabres überwältigend großem Seidenvorhang — selbstverständlich eine „Zeichnung“. Titel: Fliegender Hahn von 1991, 9*10 Meter, auf dem sich die Striche zu einer Landschaft, zu einem blauen Kontinent verdichten, der lebt und atmet im Rhythmus von Aufhellung und Verdichtung, von Inseln und Strömen, Bergen und Tälern aus Blau. Die Opposition von Format und Farbkonsistenz erfährt eine Fortsetzung im nächsten Saal auf der Ebene des Materials. Federleichte Iglus, aus den abgezogenen Papierbahnen geschaffen, mit denen Fabre das Tivoli- Schloß eingeklebt hatte, stehen in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem hölzernen Sarkophagus, dem kompakten, mit Zehntausenden fragiler Striche eingebläuten Haus aus Flammen von 1988.

Dieser Dialog auf der Ebene formalen Widerspruchs wird indes überlagert vom Motiv der Symmetrie, der Spiegelung, des Doppels, das man überall in dieser Ausstellung und im ganzen Werk von Fabre findet. Am deutlichsten wird diese Verdoppelung bei einer Serie von Fotografien des Tivoli-Schlosses, das in irritierender Schönheit in seinem blauen Ornat so abgelichtet wurde, daß es sich im Wasser spiegelt — bei wechselnden Tageszeiten und natürlich zur „blauen Stunde“. Mal sind diese Spiegelungen klar, mal verschwommen und immer sind die Fotos so auf den Kopf gestellt, daß die Spiegelung den Platz des Originals einnimmt. Fabre interessieren Gleichartigkeiten, um das Unterschiedliche desto deutlicher auszumachen. Die Kritiker wollten darin allerdings eine auch autobiographische Fixierung sehen. Fabre ist in seiner Jugend oft mit seinem Bruder Emile verglichen worden, der noch vor Fabres Geburt gestorben war. So mag sich in ihm die Vorstellung gebildet haben, Doppel- und Wiedergänger eines nur als Photo existierenden anderen zu sein.

Eines der schönsten und nachdrücklichsten Bilder der Ausstellung zeigt zwei identische Insekten, die klein und verloren in diesem unendlichen Blau einander gegenüberstehen. Ihre grünweiße Tarnfarbe hat in dieser Umgebung jeden Sinn verloren. Ihre Scheren und Tentakeln haben sie aufeinander gerichtet — ob zum Kampf oder zur Liebe, zum Überleben oder zum Sterben.

Postskriptum: Jan Fabre hat viele Fans und viele Sammler — leider auch solche mit langen Fingern. Im chaotischen Gedränge der Ausstellungseröffnung wurden zwei kleinformatige Tuschezeichnungen aus der frühen Insektenserie gestohlen. Sie gehören zur persönlichen Sammlung Fabres, der nie die Absicht hatte, sie zu verkaufen. Er appelliert an die Diebe, sie zurückzugeben und ist notfalls auch bereit, sie zurückzukaufen. Er bittet um Kontaktaufnahme, privat oder über den Hannoverschen Kunstverein.

Bis 15.März im Kunstverein Hannover, Sophienstraße 2. Dienstags bis sonntags von 10 bis 18, freitags bis 21 Uhr. Sehr schöner Katalog für 35DM

Die Premiere seines neuen Stücks Elle était et elle est, même findet am 4.März in Frankfurt (TAT) statt