: „Man sagt Irak und meint Saudi-Arabien“
Im mächtigsten Staat am Golf rührt sich die Opposition/ Seit dem Golfkrieg hat sich die Position der Islamisten verstärkt/ Sittenpolizei kritisiert die Familie Saud — die ist indigniert und läßt verhaften/ „Dritte Kraft“ fordert Demokratisierung ■ Aus Amman Khalil Abied
Die saudische Regierung hat in der zweiten Februarhälfte mehrere hundert Mitglieder der staatlichen islamischen Sittenpolizei, der sogenannten „Mutaoua“, verhaften lassen. Ein Teil ihrer Dienstwagen (Fabrikat: General Motors) wurde beschlagnahmt. Nach Angaben von Augenzeugen hatten die „Mutaoui'ien“ versucht, eine Protestdemonstration zum Palast von Prinz Salman, Gouverneur der Hauptstadt Riad, zu organisieren.
Prinz Marshal, der stolze Besitzer eines der glitzernden Enkaufszentren von Riad, war offenbar zu dem Schluß gekommen, daß der Einsatz der Ordnungshüter geschäftsschädigend ist, weil sie die Kundschaft belästigen. Also untersagte man den Mutaoui'ien, sich auf der Suche nach falsch gekleideten Frauen, unverheiratet flanierenden Paaren und anderen Regelverletzern im Einkaufszentrum des königlichen Sprößlings herumzutreiben. Denn was in dem Staat, der den Koran zu seiner Verfassung erhoben hat, offiziell als Anstand und gute Sitte gilt, ist den Angehörigen der oberen Zehntausend unerträglich geworden.
Das ist ein schwerer Affront gegen die mächtige Sittenpolizei, die in der Vergangenheit oft als „Eiserne Faust“ des Herrscherhauses eingesetzt wurde. Sie wacht darüber, daß die Regeln des Koran in der Öffentlichkeit eingehalten werden. Jeden, der beispielsweise während der Gebetszeit seinen Laden nicht schließt oder einfach nicht in die Moschee geht, dürfen die Mutaoui'ien schlagen und festnehmen. Frauen werden von ihnen belästigt und bestraft, wenn sie unvollkommen verschleiert auf die Straße gehen, oder nach Parfüm riechen — und da sollen die Reichen keine Ausnahme machen.
Seit dem Golfkrieg hat sich das Verhältnis zwischen den religiösen Ordnungskräften und dem Königshaus grundlegend verändert. In der Frage, ob eine Stationierung „ungläubiger“ amerikanischer Soldaten im Land von Mekka und Medina zulässig ist, waren nicht nur die Mutaui'ien anderer Meinung als die Regierung.
Die Beteiligung der saudischen Regierung an den multilateralen Nahostverhandlungen hat den Riß zwischen der saudischen Herrscherfamilie und den Konservativen weiter vertieft. Hunderte einflußreicher Bürger, unter ihnen islamische Geistliche, Richter, Professoren und Geschäftsleute, haben sich unlängst in einer Petition an den saudischen Mufti, Sheikh Abdel-Aziz Ibn-Baz, gewandt. „Die Beteiligung [an der Nahostkonferenz] verstößt gegen die Pflicht eines jeden Gläubigen, sich gegen die Feinde des Islam zu wenden und die heiligen Stätten [Al-Aqsa-Moschee und Felsendom in Ost- Jerusalem] zu befreien. Die Verhandlungen sind eine Kapitulation.“ Sie kritisierten auch wiederholt die Korruption der weitverzweigten Herrscherfamilie der Sauds, die das Land wie einen Selbstbedienungsladen behandelt. Und sie forderten erneut eine „Majlis asch-Schura“, eine Ratsversammlung.
Die Mutaoua fühlen sich als Teil dieses konservativen Lagers jetzt gestärkt. Sie wollen nicht mehr nur als ordnungspolitisches Instrument der Sauds eingesetzt werden. Sie sind sehr gut organisiert, verfügen über viel Geld und konnten in letzter Zeit ihren Einfluß in den religiösen Universitäten, Schulen und anderen Institutionen weiter ausbauen, ebenso unter den Beamten und in großen Teilen der Armee, vor allem in den niederen Rängen.
Ähnliches gilt für die gesamte islamistische Bewegung in Saudi-Arabien. Ihre Anhänger wollen ihr religiöses Gewicht in eine eigenständige Politik umwandeln. Während der letzten Monate haben sie ihre Öffentlichkeitsarbeit erheblich verstärkt. In allen saudischen Städten verteilten sie Videokasetten und Tonbänder mit Ansprachen, Broschüren und Flugblätter, organisierten Treffen in den Moscheen und übernahmen die Kontrolle in Sportklubs und Kulturvereinen. Islamische Geistliche wagten es erstmals, die Mitglieder der königlichen Familie öffentlich als „Ungläubige“ anzuprangern.
Für die Sauds war spätestens die versuchte Demonstration der Mutaoui'ien ein Zeichen höchsten Alarms. War es doch, anders als in Mekka und im Osten des Landes, bislang in der Hauptstadt stets ruhig geblieben.
König Fahd wird möglicherweise schon in diesen Tagen die Gründung einer Ratsversammlung bekanntgeben. Das war eine Konzession an die neue Bewegung. Doch wird er die geplante Majlis-asch-Schura eisern unter Kontrolle halten. Eine andere Konzession war die Einrichtung getrennter Seminarzeiten für Frauen und Männer an den Universitäten. Gleichzeitig holten die Sauds zum Gegenangriff aus — Zuckerbrot und Peitsche. Der Hof-Mufti Sheikh Ibn al-Baz hat die Islamisten nicht nur wiederholt öffentlich angegriffen, sondern auch mehrere ihrer exponierten Sprecher mit Predigtverbot belegt. Es wird auch erwartet, daß einige der Leute, die während des Demonstrationsversuchs der Mutaoui'ien verhaftet wurden, mit dem Tode bestraft werden. In Kreisen der Opposition, die ihre Büros unter anderem in Damaskus unterhält, rechnet man auch damit, daß sich die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und islamistischer Opposition während der nächsten Monaten verschärfen werden.
Mittlerweile ist auch so etwas wie eine „dritte Kraft“ im Lande entstanden: die liberale Opposition. Man versammelt sich in den Salons einflußreicher großer Familien und diskutiert über „Pluralismus und Demokratie“. „Unsere Forderungen sind ganz klar“, sagt einer der „Liberalen“, „Wir sind für einen islamischen Staat, aber es muß dennoch ein moderner, entwickelter Staat sein. Und den Fundamentalismus kann man nur durch Demokratisierung bekämpfen.“
Sogar in den Zeitungen findet eine begrenzte Debatte dieser Fragen statt. Der Irak wird als Beispiel dafür genannt, in welche Katastrophe es führen kann, wenn der Staat der Bevölkerung demokratische Freiheiten verweigert. „Sie schreiben über den Irak“, sagt einer der „Liberalen“, „aber sie meinen Saudi-Arabien. Sie dürfen es bloß nicht sagen.“
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