Biermann entlastet die Stasi

■ Zur Chronologie seiner angekündigten Ausweisung heute im 'Spiegel‘

Samstag noch war die Nachwelt ratlos: Klaus Höpcke und Hermann Kant wußten auch nicht, wie die Ausbürgerung Biermanns zustande kam (s. Bericht). Skepsis im Publikum: Die Entscheidung fiel bei einer Politbürositzung — aber sollte man für möglich halten, daß Kultur-Vize und SV-Premier damit rein gar nichts zu schaffen haben sollten? Der abwesende Wolf Biermann ergänzt nun die Herren bestätigend: Im heutigen 'Spiegel‘ beschreibt er seine Ausbürgerung als eine von der Staatssicherheit geplante Aktion, die dem Politbüro als Vorschlag unterbreitet wurde. Schon am 12.4. 1973 lag, erarbeitet von der Hauptabteilung IX/2, ein Szenario vor „mit dem Ziel der Aberkennung der Staatsbürgerschaft, die gemäß §13 Staatsbürgerschaftsgesetz voraussetzt, daß BIERMANN während seines Aufenthaltes im nichtsozialistischen Ausland in grober Weise die staatsbürgerlichen Pflichten verletzt“. Man wartete also auf eine günstige Gelegenheit — die nächste war die Erkrankung von Wolf Biermanns Großmutter, die zu besuchen Biermann dann auch füglich gestattet werden sollte. „Bei Nichtdurchführung der angestrebten Reise erfolgt... die vorläufige Festnahme BIERMANNs wegen der von ihm begangenen Straftaten gemäß §§ 106 und 108 StGB.“ Die Festnahme sollte dann die Alternative stellen: Knast oder die „schriftliche Beantragung einer Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR“. Die Stasi schätzte ihren Kandidaten aber richtig ein: Empfohlen wurde, es auf diesen Konflikt nicht ankommen zu lassen, weil der lästige Biermann die „provokatorische Forderung“ stellen könne, tatsächlich in Haft zu gehen. Erst hier — als letzte Chance des Selbstreinigungsunternehmens DDR — sollte die Ausweisung verfügt werden. Mit Gutachten „mit dem Ziel des Nachweises des hetzerischen Charakters“ von Biermanns Schriften wurden vorsorglich Max Walter Schulz (Becher-Institut Leipzig), Werner Neubert ('Neue Deutsche Literatur‘), Ruth Glatzer (Aufbau-Verlag) und Armin Zeissler ('Sinn und Form‘) beauftragt. Ihre sicher verdienstvolle Arbeit kam aber nicht zum Zuge: Nachdem Biermann sich am Sterbebett seiner Großmutter 1974 nicht der staatsfeindlichen Hetze schuldig gemacht hatte, gab er mit seinem Köln Concert 1976 dem Politbüro die ersehnte Gelegenheit, die Empfehlungen der Stasi zu verwirklichen. Biermann fordert nun eine Neubewertung der Stasi-Debatte: „Die Stasi war bescheiden. Sie war ein treuer Dienstleistungsbetrieb der Partei. Einzig und allein die Funktionäre der Partei bestimmten, wen das Schwert trifft.“ Die Voraussicht der zwölf bösen Greislein will es, daß von den Sitzungen des Politbüros lediglich Beschlußprotokolle existieren. Es wird also unklar bleiben, wer die Ausbürgerung beantragte. „Mielke“, so Wolf Biermann, „entschied in diesem Hühnerstall offenbar als erster nach Honecker.“ Da ersterer nach einer langen Zeit des Schweigens und der vorgetäuschten Debilität in einem Interview mit der 'Berliner Zeitung‘ Honecker alles in die zu großen Schuhe schiebt, letzterer sich aber noch immer in russischer Behandlung befindet, ist ausnahmsweise Herrn Reich-Ranicki recht zu geben: „Der Vorhang fällt, wir stehn betroffen, und alle Fragen bleiben offen.“ ES