Ein Schritt, der buchstäblich alles ändert

In den USA gibt es immer mehr lesbische und schwule Journalisten, die das Coming-out in ihrer Zeitung wagen  ■ Von Lenny Giteck

Juan R. Palomo, ein umstrittener Kolumnist der 'Houston Post‘, wurde im August 1991 entlassen, nachdem er kaum zwei Monate zuvor versucht hatte, in seiner Kolumne seine Homosexualität zur Sprache zu bringen. Nachdem Houstons Schwule und Lesben, die Latino-Gemeinde und seine Kollegen bei der 'Post‘ protestiert hatten, wurde der 45jährige Palomo eine Woche später jedoch wieder eingestellt, wenn auch in einer anderen Position.

Charles Cooper, der Herausgeber der 'Houston Post‘, bestreitet nach wie vor, daß Palomos Homosexualität — oder sein Gespräch mit der 'Houston Press‘, einem alternativen Wochenblatt, über seinen fehlgeschlagenen Versuch des Coming-out — für seine Entlassung ausschlaggebend gewesen sei. „Das war zwar nicht förderlich, aber es war lediglich ein Teil einer umfassenderen Auseinandersetzung zwischen Juan und der Zeitung“, betont Cooper. „Es gab Meinungsverschiedenheiten über seine Rolle — ob er selbst alle Spielregeln festlegt oder ob der Beitrag der Herausgeber in die Gestaltung der Kolumne eingeht.“ Palomo gibt zu, daß er und die 'Post‘ in einer Reihe von Fragen zusammengestoßen waren — insbesondere in der Frage, ob seine Kolumne eher lokal oder national geprägt sein solle — aber er betont: „Sie haben mir nie gesagt, ich könnte über ein bestimmtes Thema nicht schreiben, bis ich über die Tatsache meiner Homosexualität schreiben wollte.“

Seit Palomos Coming-out haben sich Houstons Homosexuelle zu seiner Unterstützung zusammengeschlossen — buchstäblich und bildlich. Laut Tracy Brown von der Houstoner Gruppe von Queer Nation, einer Gruppe für direkte Aktion, demonstrierten etwa die Hälfte der Mitglieder vor Coopers Eigentumswohnung. Die Gruppe versuchte auch, einen Tag lang alle Telefone und Faxanschlüsse der 'Post‘ zu blockieren und rief zu einem Boykott der Zeitung auf. Auf Hunderten von Zeitungsverkaufsmaschinen in der ganzen Stadt tauchten Aufkleber auf: „Außer Betrieb“.

Eine Form von Doppelmoral

Palomos Fall illustriert ein Dilemma, vor dem die meisten schwulen und lesbischen Kolumnisten und Rezensenten in den normalen Medien stehen: Scheinbar können sie ihre Vorstellungen und Meinungen vortragen, wenn sie jedoch öffentlich ihre sexuelle Orientierung zur Sprache brächten, würden sie auf den Widerstand ihrer Redaktionsleitungen und der Leser stoßen.

Laut M. Scot Skinner, einem Veranstaltungsreporter für den 'Arizona Daily Star‘ in Tucson, zeigt sich in der Vorstellung, Kolumnisten dürften sich nicht offen als homosexuell bekennen, offensichtlich eine Form von Doppelmoral. „Wenn homosexuelle Schreiber über ihr Privatleben schreiben wollen“, erklärt Skinner, „dann sagen die Herausgeber: ,Es macht uns nichts aus, wenn Sie schwul sind, aber der Zeitung steht eine Diskussion darüber nicht gut zu Gesicht.‘ Heterosexuelle Schreiber können jedoch durchaus über ihr Privatleben schreiben — über ihre Familien zum Beispiel.“

Aber dies kann schwierig werden, wie Skinner selbst lernte. Im Januar schrieb er am Schluß einer Rezension eines Andrew-Dice-Clay-Konzerts an der Universität von Arizona, er und sein Freund hätten sich vor der Konzerthalle geküßt, um gegen Clays Homosexuellenfeindlichkeit zu protestieren. Der Artikel löste in der Redaktion des 'Star‘ einen Sturm aus; viele Redakteuere waren der Meinung, Skinner sei zu weit gegangen. Jan Stuart, ein offen schwuler Theaterkritiker für die New Yorker 'Newsday‘, hält es dagegen für entscheidend wichtig, daß Kritiker „ihr persönliches Gepäck mit ins Theater bringen und in ihrer Kritik irgendwie sichtbar machen“. Dennoch warnt Stuart davor, sich freiwillig in eine Schublade zu begeben. „Wenn man als einseitig wahrgenommen wird“, sagt er, „lassen einen die Leute fallen.“

Das Schweigen brechen

Als er in der 'Houston Press‘ seine Homosexualität zur Sprache brachte, folgte Palomo damit dem Beispiel einer größer werdenden Gruppe schwuler und lesbischer Zeitungsreporter, Rezensenten und Kolumnisten, die sich über ihre sexuelle Orientierung klar äußern. Die meisten haben offen nur mit den Kollegen und der Redaktionsleitung ihrer Zeitungen gesprochen, aber eine Handvoll haben ihre Sexualität auch öffentlich gemacht. Für viele dieser Journalisten ergab sich der Ansporn zum Coming-out aus ihrer Arbeit selbst. Palomo zum Beispiel entschloß sich zu diesem Schritt, während er eine Kolumne über den Mord an einem Homosexuellen schrieb.

Lily Eng, inzwischen Redakteurin an der 'Los Angeles Times‘, erklärte sich in dieser Zeitung öffentlich als lesbisch, nachdem sie schon früher an einer Serie unter dem Titel Homosexuell in Amerika gearbeitet hatte — während ihrer Zeit beim 'San Francisco Examiner‘, wo sie ihre Homosexualität verschwiegen hatte. „Durch die Serie wurde mir deutlich, wie viele Leute ihre Homosexualität nicht mehr geheim halten“, sagt Eng, „und wie glücklich sie über ihre Entscheidung waren, sich nicht mehr zu verstecken.“ Elaine Herscher, Reporterin beim 'San Francisco Chronicle‘, entschloß sich zum Coming- out, als sie nur unter Schwierigkeiten Lesben finden konnte, um sie für ihre Artikel zu interviewen. „Mir wurde klar: Wenn ich von anderen verlangte, sie sollten sich öffentlich erklären, dann mußte ich dazu ebenfalls bereit sein“, erinnert sie sich.

Joe Nicholson, Medizin- und Wissenschaftsredakteur bei der 'New York Post‘, entschloß sich vor elf Jahren zum Coming-out gegenüber seiner Redaktionsleitung, nachdem im „Ramrod“, einer Schwulenbar in Manhattan, ein Mann um sich geschossen und mehrere Gäste getötet hatte. „Meine Zeitung hatte auf der ersten Seite aufgemacht mit der großen Überschrift ,Warum? Warum? Warum?‘“ erinnert er sich. „Ich ging zur Redaktionsleitung und sagte: ,Hört zu, ich bin selbst schwul; ich kann euch die Frage beantworten, indem ich eine Serie über Homosexuellenfeindlichkeit und Gewalt gegen Schwule schreibe.‘“ Obwohl Nicholson den Artikel — auch über sein eigenes Schwulsein — schrieb, wurde er nie abgedruckt, weil die Herausgeber, wie man Nicholson sagte, sich nicht darüber einigen konnten, auf welcher Seite er erscheinen sollte.

Schließlich haben sich in den letzten Jahren auch eine ganze Reihe homosexueller Journalisten zum Coming-out entschlossen, um über Aids zu berichten — „um besser beschreiben zu können, was passiert“, wie es Victor F. Zonana ausdrückt, der für die 'Los Angeles Times‘ aus New York berichtet.

Komplimente

In mancher Hinsicht ist das Coming- out für Journalisten leichter als für Angehörige anderer Berufe. Lee Stinnett, der offen schwule Geschäftsführer der Amerikanischen Gesellschaft der Zeitungsherausgeber, hat festgestellt, „daß man sich durch eine klare Haltung in den Medien Pluspunkte verschafft. Als ich meine Homosexualität öffentlich machte, haben mir deswegen viele Leute Komplimente gemacht.“

Aber es gibt im Journalismus auch starke Gründe gegen das Coming- out. „Als Meinungsmacher der Gesellschaft sind die Medien sehr stark um ihr eigenes Image besorgt“, sagt Leroy Aarons, der Präsident der neugegründeten National Lesbian und Gay Journalists Association. Eines der wichtigsten Hindernisse, die lesbische und schwule Journalisten vom Coming-out abhalten, ist die verbreitete idealisierte Sicht des Journalisten: Individuen ohne ausgeprägte eigene Meinung, zumindest ohne Vorurteile oder den Wunsch, eigene Interessen zu vertreten. Viele Zeitungen vertreten die Politik, daß Redaktionsmitglieder sich nicht für politische oder umstrittene Anliegen engagieren dürfen.

In vielen Fällen ist diese Vorsicht vielleicht unnötig. Sowohl bei der 'Los Angeles Times‘ als auch beim 'San Francisco Examiner‘ dürfen sich Redaktionsmitglieder nicht politisch betätigen — aber keine der beiden Zeitungen würde das Coming- out als politischen Akt begreifen, so jedenfalls George Kotliar, Chefredakteur der 'Times‘, und Larry Kramer, Chefredakteur des 'Examiner‘. Laut Richard Jennings, dem Geschäftsführer der Los Angeles- Gruppe der „Gay and Lesbian Alliance against Defamation“ (GLAAD), eine Medienbeobachtungsgruppe, geben sich Zeitungen häufig besondere Mühe, heterosexuelle Reporter für homosexuelle Themen zu beauftragen. „Anscheinend nimmt man an, Homosexuelle könnten nicht objektiv sein“, sagt er.

Nancy Solomon, eine offen lesbische Reporterin der 'Times‘ in San Mateo, Kalifornien, ist überzeugt, daß ihre Herausgeber ihren Artikeln immer dann mißtrauen, wenn sie zu Homo-Themen schreibt. „Die Artikel werden überaus scharf redigiert“, sagt sie, „ganze Absätze fliegen raus. Da das bei meinen anderen Artikeln nicht der Fall ist, bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß diese Artikel besonderes genau geprüft werden.“

„Perverses Verhalten“

Ob Homosexuelle die Homo-Themen objektiv und gut behandeln können, ist für Skinner nicht nur eine rein theoretische Frage. Anfang August veröffentlichte der 'Star‘ seine zweiteilige Serie über eine Polizeikampagne mit verdeckten Ermittlern, die zur Verhaftung von über 300 Männern in den öffentlichen Parks von Tucson geführt hatte. Skinner hatte schon seit Monaten von der bevorstehenden Kampagne gehört — und daß die Polizei angeblich eine Taktik verfolgen wolle, die darauf hinauslief, Gesetzesübertretungen zu provozieren, wenn nicht gar Fallen zu stellen. Er wandte sich an seine Redakteure beim 'Star‘ und sprach sich dafür aus, das Thema zu behandeln. „Sie waren dabei sehr nervös“, erinnert er sich, „aber schließlich setzten sie unsere Polizeireporterin daran. Unglücklicherweise verließ sie sich vollständig auf Polizeiquellen und auf zwei Psychologen, die sich über ,perverses Verhalten‘ im Park ausließen.“ Der Artikel wurde im 'Star‘ niemals veröffentlicht, weil er, wie Skinner glaubt, der Redaktionsleitung zu sensationslüstern war. Inzwischen erfuhr Skinner von immer mehr Verhaftungen und schlimmen Folgen für die Betroffenen. Nachdem der 'Star‘ ein Jahr später eine neue Chefredakteurin erhalten hatte, ging Skinner mit seiner Idee zu ihr und bekam grünes Licht.

In seinen Artikeln bot Skinner dem Polizeichef von Tucson sowie dem verdeckten Ermittler, der die meisten Verhaftungen vorgenommen hatte, ausreichend Gelegenheit, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen. Anders jedoch als die Polizeireporterin interviewte er auch eine Reihe von Männern, die verhaftet worden waren, und stellte das offizielle Vorgehen der Polizei in Frage.

Meinungsbildung

Wenn die Medien die Meinungsmacher unserer Gesellschaft sind, dann können offen schwule und lesbische Journalisten bei der Veränderung der öffentlichen Meinung gegenüber Homosexuellen eine entscheidende Rolle spielen. Zum einen können sie dazu beitragen, daß homosexuelle Themen in den Medien fairer, vollständiger und ausgewogener behandelt werden. „Da ich selbst homosexuell bin, kann ich Nuancen herausarbeiten, die einem heterosexuellen Reporter fremd wären“, beoachtet Tuller. „Ich kann der großen Leserschaft das homosexuelle Lebensgefühl verständlicher machen.“ Offen schwule und lesbische Reporter können für Zeitungen auch sehr wertvoll sein. Jennings sagt, wenn GLAAD sich mit Chefredakteuren treffe, frage die Organisation immer nach, ob es in der Redaktion offene Homosexuelle oder Lesben gebe.

„Wenn sie nein sagen“, sagt Jennings, „weisen wir darauf hin, daß ihre Berichterstattung besser wäre, wenn es welche gäbe. Sie bekämen bessere Hinweise, bessere Quellen, eine bessere Behandlung sämtlicher Gesichtspunkte und so weiter.“ Chefredakteur Kramer vom 'San Francisco Examiner‘ stimmt dem zu. „Sie können zum Verständnis beitragen, wo die homosexuelle Gemeinde herkommt und wo sie empfindlich ist“, sagt er.

Für Lesben ein Risiko?

Es besteht wenig Zweifel, daß schwule und lesbische Journalisten, die öffentlich über ihre Sexualität schreiben, ein Karriererisiko eingehen. Selbst wenn sie sich in ihrer gegenwärtigen Position sicher fühlen, ist es ungewiß, was passieren würde, wenn sie zu anderen Zeitungen wechseln wollten oder müßten. Für einige gibt es aber keinen Weg zurück. „Ich würde nicht für eine Zeitung arbeiten, an der ich mein Schwulsein verbergen müßte“, sagt Tuller, der zweifellos für viele seiner Kollegen spricht. Tuller ist überzeugt, daß seine offene Homosexualität ihm beim 'Chronicle‘ den weiteren Aufstieg nicht verbauen würde, aber Kollegin Elaine Herscher ist sich nicht so sicher, ob dies auch für Lesbierinnen gilt. „Im Moment gibt es in Zeitungen ganz allgemein so wenig Frauen im Management“, sagt sie, daß „ein Bekenntnis zur lesbischen Identität auf die Dauer kein Karrierevorteil ist.“ Vielleicht ist es für jeden Journalisten unmöglich zu bemessen, wie sich seine Karriere ohne sein Coming-out entwickelt hätte. Palomo zum Beispiel wird niemals wissen, ob und wie es seine Chancen beeinflußte, daß seine Kolumnen von einem landesweiten Zeitungssyndikat übernommen wurden.

Bevor die Kontroverse in Houston zum Ausbruch kam, hatte Palomo erste Gespräche mit der Kolumnistengruppe der 'Washington Post‘ darüber geführt, seine Kolumnen im nationalen Rahmen anzubieten. Alan Shearer, Geschäftsführer und Verlagsleiter des Zeitungssyndikats, betont, Palomos offene Homosexualität sei kein Hindernis. „Wir sind davon überzeugt, daß Juan eine gute Perspektive hat, aber als Kolumnist muß er noch ein bißchen besser werden“, sagt Shearer. „Unglücklicherweise liegt das Hauptproblem gegenwärtig darin, daß der Markt unglaublich überfüllt ist.“

Trotzdem kein Bedauern bei Palomo: „Das Coming-out hat für mich buchstäblich alles geändert, weil ich nichts mehr zu verbergen habe“, sagt er. „Als Kolumnist wurde ich immer zu Dinners oder Empfängen eingeladen, und unweigerlich luden sie auch meine Frau ein. Ich erfand dann alle möglichen Entschuldigungen, aber jetzt habe ich das nicht mehr nötig.“

Aus dem Amerikanischen

von Meino Büning

Aus: 'The Advocate‘ (National Gay and Lesbian Monthly), USA, Oktober 1991. Gekürzte Fassung.