Kunstkopftheater

■ Frank-Patrick Steckel inszeniert Heiner Müllers „Zement“ in Bochum

Ein Kopf, ein Text, ein Bild — mehr nicht. Eine Figur mit überdimensioniertem weißen Schädel sitzt auf der dunklen Bühne vor einer Ziescheibe mit Rasterquadern. Regungslos spricht sie einen Text, der von einem erzählt, der auszog, ein Ungeheuer zu bekämpfen und selbst zum Ungeheuer ward.

Die Schädeldecke des Erzählers wird dabei zur Projektionswand, ein Schattenmuster erscheint mehrmals darauf und verschwindet wieder. Ein Maschinenteil? Ein großäugiges Tier? Die Sprechmaschine, die sich unter den Schädelknochen dreht oder das Tier, das im Menschen haust, während er meint, es mit Messern, Bomben zu vernichten? Hier wird die Zuschauerkunst zur Zuschauerarbeit, vor allem: Zuhörarbeit. Reizreduktion auf der Bühne, Phantasieproduktion in den Köpfen der Zuschauer (oder auch: Unverständnis und Langeweile).

Auf das Kunstkopfdenkspiel folgt die Revolutionsikone: ein schmutziges Rot mit durchscheinender schwarzer Grundierung beherrscht den Bühnenraum. Auf einem schräggestellten Rhombus steht Gleb Tschumalow, der Held des Krieges und der Arbeit, der Kommunist. Seine Kleidung hat dieselbe Farbe wie der Raum, in dem er steht. Sein Mantel hat gemalte Falten, gemalte Revers und Schatten. Die dreidimensionale Bühnenfigur wird zurückgeholt in die Fläche.

Hörspiel und Schauspiel sind die Ideale für Steckels Theater. Er taucht Heiner Müllers Text nicht, wie sonst üblich und auch vom Autor selbst praktiziert, in eine beliebig assoziierte Bildersauce, sondern macht daraus ein karges Maskenspiel. Die Arbeiter sind schwarze, schiefe Kohlenkerle mit Riesenpranken, die Kosaken wilde Zottelbären mit Saufnasen und Patronengurten, die Bauern hohe schmale Stoffpuppen. Die Kommunisten sind flach wie Pappkameraden, ausgeschnitten aus dem Bilderbuch. Die Roten sind rot, die Weißen weiß: Holzschnitt aus der Revolutionsepoche, handkoloriert.

Zement steht zwischen Heiner Müllers sozialismusgläubigen frühen Stücken und seinen späteren zynischen Geschichtsdramen. Es ist die Dramatisierung von Fjodor Gladkows gleichnamigem Roman. Die historische Distanz ist also dreifach: Romanvorlage 1925, Theaterbearbeitung 1973, Inszenierung 1992. Was interessieren uns heute die Mühen des Aufbaus der Sowjetunion? Die Mühen ihres Abbaus sind schlimm genug. Es gäbe allerdings eine Rechtfertigung dafür, das Stück heute noch zu spielen: den Geschlechterkampf.

Gleb Tschumalow kommt aus dem Bürgerkrieg, und die Zementfabrik steht still. Seine Frau hingegen will nicht mehr stillhalten: Dascha Tschumalowa organisiert die Weiberfront. Zement ist auch ein Stück über die Emanzipation der Frau, über die Verhärtung, die Destruktivität der Frau und ihre Beziehung zum Tod. Diese Seite des Stückes scheint Steckel aber wenig zu interessieren. Aktualisierung ist nicht seine Sache, eher Archäologie. „Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten“, zitiert das Programmheft Heiner Müller. Steckel, der heldische Pessimist unter den deutschen Theaterregisseuren, kommt von der linken Trauerarbeit nicht los.

Alle Anflüge von Zukunftsoptimismus, die Tschumalow bei Heiner Müller noch hat, sind gestrichen. Aller Anschein von Versöhnung zwischen Dascha und Gleb ist getilgt. Die Szene, in der Dascha ihren Mann zurückweist, endet bei Heiner Müller in Anlehnung an die seiner Bearbeitung zugrundeliegende stalinistisch retouschierte Romanfassung aus den vierziger Jahren mit Daschas Zugeständnis „Leg deine Hand auf meine Brust. So.“ Steckel dagegen rekonstruiert die Originalfassung des Romans und schließt die Szene mit Daschas Weigerung: „Nun geh“ und Glebs frustrierter Duchhalteparole: „Ich habe mich noch nie ergeben.“

Gestrichen hat Steckel den Schluß, der Sieg der Sowjetmacht über die weißen Konterrevolutionäre. Der Blick nach vorn ist bei ihm der Blick in die Niederlage. Polja und Iwagin, zwei Kommunisten, sind beide nach dem X.Parteitag der KPdSU, der 1921 das Fraktionsverbot beschloß und gegen den linken Radikalismus vorging, aus der Partei ausgeschlossen worden. Sie sprechen sich ihre Abschiedsmonologe vor: „Die Niederlage ist der beste Lehrer/ Du wirst der Wahrheit nicht entgehen und ich nicht./ Was auf uns wartet auf dem Grund sind wir./ ...Wir können die Geschichte nicht anhalten/ Wie einen Gaul da wo es uns gefällt.“ Die Reste von Hoffnung in der Auflösung der eigenen Identität, die Heiner Müllers Text noch enthält, werden getilgt durch die Trostlosigkeit der Szenerie: zwei Isolierte stehen an der Wand am Bühnenrand. Polja richtet die Pistole auf sich.

Dann folgt wieder das Hörstück vom Anfang: Herakles 2 oder die Hydra, ein Prosatext, der eigentlich in der Mitte des Stückes steht und zentral ist für das gesamte Werk Heiner Müllers, eine Parabel über die Vergeblichkeit des Kampfes zwischen Kapitalismus und Kommunismus und eine Parabel über die Auflösung des Subjekts in seiner Selbstbeschreibung. Wiederum: ein Bild, ein Text, ein Kopf — nicht mehr. Gerhard Preußer

Heiner Müller: Zement. Schauspielhaus Bochum, Regie: Frank- Patrick Steckel, Bühne: Johannes Schütz, mit Thomas Anzenhofer, Martina Krauel u.a., weitere Vorstellungen: 7., 14., 20.März