Ein blutiger Glückstag

Das November-Massaker von Osttimor hat nicht nur die Weltöffentlichkeit wachgerüttelt — auch in Indonesien selbst entwickelte sich eine ungewohnt offene Diskussion über das Thema  ■ VON WERNER WASMUTH

Der 12. November 1991 sollte ein dunkler Tag in der Geschichte Indonesiens werden. Bereits zwei Wochen zuvor war es auf Osttimor zu blutigen Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung Suharto gekommen, bei denen es auf jeder Seite jeweils ein Todesopfer gegeben hatte.

Angekündigt war die Ankunft einer UN-Kommission, die sich mit eigenen Augen von der Situation in Indonesiens 27. Provinz überzeugen wollte. Zwar hatte das Land 1949 seine Unabhängigkeit von den Niederlanden erlangt, doch war damals Osttimor noch portugiesische Kolonie. Wie West-Neuguinea (heute Irian Jaya), so wurde auch Osttimor erst vor etwa fünfzehn Jahren Teil des indonesischen Inselstaates, und dies gegen den erklärten Willen zumindest eines Teils der lokalen Bevölkerung. In Osttimor war es die FRETELIN, die gegen einen Anschluß an Djakarta votierte und, angesichts eines massiven und ständigen Aufgebots von indonesischen Truppen in den Untergrund getrieben, seitdem als „kommunistische Organisation“ gebrandmarkt und verfolgt wird.

FRETELIN — für die an der „Dritten“ Welt interessierte Linke im Westen Symbol eines unterdrückten Freiheitskampfes, der freilich vor Ort häufig als mancher seiner Mythen beraubt erscheint: Die eigene Unabhängigkeit einer halben Insel wird da leicht zum Traum; Realität bleibt hingegen die Erfahrung der Bevölkerung, in jeglicher Hinsicht von den „Fortschritten“ auf Jaya und dessen Metropolen abgeschnitten zu sein — eine vor sich hinsiechende Ökonomie, Entfremdung der Bevölkerung von ihrer agrarischen Basis durch „Entwicklungsmaßnahmen“, die, wie sinnvoll auch immer sie auf dem Reißbrett erscheinen mögen, die fatale Auswirkung einer Orientierung an Werten ferner Großstädte haben. Unabhängigkeit ist da eine Sache, der tägliche Überlebenskampf eine andere; für ersteres mag es Theorien und Ideale geben, das zweite hingegen beruht auf dem leeren Bauch. Während sich in den Metropolen die Bäuche zunehmend füllen, wie es täglich die Medien, allen voran Fernsehen und Werbung, vermitteln, ist hier bereits die Hoffnung auf einen Teller Reis ein Zeichen von kommunistischer Unterwanderung, und eine Arbeitsstelle ein ferner Traum.

Der Fortschritt der leeren Bäuche

Offene Gespräche oder gar Kritik zum Thema Osttimor — „Tim-Tim“ (Timor Timur), wie es auf indonesisch abgekürzt wird, sind für die Regierung in Djakarta stets ein rotes Tuch gewesen. Nun hat es das Land in den letzten Jahren unter dem regen Außenminister Ali Alatas außenpolitisch zweifellos zu einigem Ansehen gebracht. Als Vertreter der ASEAN- Staaten ist es stimmführend in der UNO und Mitglied der UN-Menschenrechtskommission. Allerdings brachte sogar Kanzler Kohl bei Suhartos Staatsbesuch im Juli 1991 das Thema Menschenrechte auf den Tisch, mit seiner Bitte an den indonesischen Präsidenten, „auf diesem Wege weiterzugehen“. Das Bündnis 90 hatte den Kanzler in einem Brief aufgefordert, die Entwicklungshilfe für Indonesien einzufrieren, bis die Einhaltung der Menschenrechte sichergestellt sei.

Innenpolitisch ist die Lage, allen Unkenrufen in den letzten Jahren zum Trotz, relativ stabil. In Krisengebieten wie Irian Jaya oder „Tim- Tim“ allerdings fällt die starke Militärpräsenz auf, die wohl nötig ist, um „Stabilität“ zu garantieren. Die indonesische Presse unterliegt wie alle Medien einer starken Zensur; gerade bei sensiblen Themen wie etwa Osttimor sind kritische Stimmen absolut unerwünscht und können die Existenz eines Blattes durchaus gefährden. Das weiß man dann auch, und so kommt es zu Vorfällen wie etwa jener weißen Seite im Nachrichtenmagazin 'Tempo‘ Anfang September, als sich die Redaktion gegen den Abdruck eines kritischen Artikels über die Lage von Osttimoresen in Djakarta entschied. Die weiße Seite allerdings spricht in Verbindung mit dem nicht (selbst)zensierten Inhaltsverzeichnis derselben Ausgabe des Magazins — wo eben jener Artikel mit Foto angekündigt wird — eine deutliche Sprache.

Gut zwei Monate später, Ende 1991, sind die Zeitungen voll mit Beiträgen über Osttimor, allen voran 'Tempo‘. Was ist geschehen?

Massaker vor dem Friedhof

In den Morgenstunden des 12. November brannten den Militärs, kommunistischen Untergrund witternd, die Sicherungen durch. Mehr als 1.000 Menschen hatten sich in den Straßen der osttimoresischen Hauptstadt Dili zu einer Demonstration in Bewegung. Sprechchöre und Spruchbänder forderten Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, man skandierte Parolen der FRETELIN. Nach einer Messe — der überwiegende Teil der Bevölkerung ist, im Gegensatz zum übrigen Indonesien, katholisch — strömte die Masse auf den Friedhof Santa Cruz zu. Dort liegt Sebastiano Gomez begraben, der am 28. Oktober bei einem Zusammenstoß zwischen Befürworten und Gegnern der Integration Osttimors nach Indonesien ums Leben gekommen war, just an jenem Datum, an dem 63 Jahre zuvor die indonesische Unabhängigkeitsbewegung gegen die Niederlande sich zu formieren begann („Hari Sumpah Pemuda“, Tag des Schwurs der Jugend). Sicherlich war die Demonstration vom 12. November auch als Zeichen gedacht für eine internationale UN-Kommission, die soeben in einem nahen Hotel weilte.

Jedenfalls geriet die Masse in Panik, als immer mehr Militär auftauchte, und ein Major, der sich offenbar berufen fühlte, den Strom aufzuhalten, verletzt wurde. Wenige Minuten später hatte der Zug den Friedhof erreicht, als plötzlich ohne direkten Anlaß das nachstürmende Militär wahllos in die Menge zu schießen begann. Offizielle Bilanz: 19 Tote, 19 Verletzte, die meisten Jugendliche. Die Zahlen wurden von Anfang an angezweifelt und standen in deutlichem Widerspruch zu Meldungen in der ausländischen Presse, wo immerhin von hundert Toten und mehr die Rede war — von Verletzten und Vermißten ganz zu schweigen.

Ein erster Versuch der wohl selbst überraschten Zentralregierung, das Ereignis herunterzuspielen, ließ sich angesichts der massiven Reaktionen aus dem Ausland — vor allem Australien — aber auch an einigen Universitäten wie Bandung, wo es zu Demonstrationen kam, nicht lange aufrechterhalten. Zwar bemühte sich der Oberbefehlshaber der Armee, General Tri Sutriano, auf gewohnt geharnischte Art die Schuld den Demonstranten in die Schuhe zu schieben, indem er vor dem Parlament jegliche Verantwortung des Militärs als „Bullshit“ von sich wies und sich ausländische „Einmischung“ strikt verbat. Doch sah sich die Regierung angesichts der Drohungen aus dem Ausland, seine Entwicklungshilfe bis auf weiteres einzustellen — vor allem Australien, Neuseeland, USA, Kanada, Niederlande — sowie der Forderung nach einer internationalen Untersuchungskommission unter deutlichem Zugzwang. Eine anfängliche Version in den Zeitungen, der Dili-Vorfall sei Produkt subversiver Kräfte aus Australien, ließ sich kaum halten, da inzwischen auch offizielle Stimmen, allen voran Erzbischof Belo von Dili und der Gouverneur von Osttimor, Mario Vargas Carrascalao, die Dinge klar beim Namen nannten.

Carrascalao selbst zum Beispiel hatte mit angesehen — und zum Teil von seinem Büro aus gefilmt — wie unmittelbar nach dem Vorfall Leichen lastwagenweise fortgeschafft wurden. In einigen sehr offenen Interviews legte der Gouverneur auch die Gründe für den Unmut der Bevölkerung über die Politik der Regierung dar, die zu einer ständigen Verschlechterung der ökonomischen Situation auf Osttimor geführt habe. Auch aus seiner eigenen Enttäuschung über die chronische Ignoranz Djakartas gegenüber den Realitäten machte Carrascalao keinen Hehl.

Nicht zuletzt auf die Reaktionen im Ausland dürfte es zurückzuführen sein, daß nun auch die indonesische Presse offen über Osttimor zu berichten begann. Zensurmaßnahmen hätten zu diesem Zeitpunkt ohne Zweifel die stark angekratzte Glaubwürdigkeit der Regierung endgültig zusammenbrechen lassen.

Die „indonesische“ Lösung

Am 28. November nahm eine nationale Untersuchungskommission unter der Leitung von Djaelani, Richter am Obersten Gerichtshof in Djakarta, ihre Arbeit vor Ort auf, um die Ereignisse von Dili zu rekonstruieren. In Australien war es inzwischen zu massiven Protestaktionen gegen die indonesische Regierung gekommen: Flughafenpersonal verweigerte gar der indonesischen Airline „Garuda“ zwei Tage lang die Abfertigung. Fast drohte der Zwischenfall zu einer Krise mit dem nicht allzu beliebten Nachbarn Australien zu werden.

Daß es dann soweit nicht kam, ist der indonesischen Presse, offenen Worten wie denen des Gouverneurs Carrascalao und nicht zuletzt auch der Untersuchungskommission zu verdanken. Deren Arbeit wurde bald von ausländischen Menschenrechtsorganisationen kritisiert, für indonesische Verhältnisse jedoch war sie erstaunlich penibel. Zwar sitzen bis heute noch eine Reihe von Studenten in Polizeigewahrsam, die in Djakarta gegen die Osttimor-Politik der Regierung demonstiert hatten, doch muß man Djaelani und seinen Kollegen zugestehen, dem anfänglich aus verschiedenen Ecken laut gewordenen Verdacht der Parteilichkeit soweit wie möglich aus dem Wege gegangen zu sein — zahlreiche Augenzeugen in Dili wurden gehört; man versuchte, den Vorgang vom 12. November in allen Einzelheiten zu rekonstruieren; es gab Kontakte zur FRETELIN.

Siebzehn Tage nach Aufnahme der Untersuchungen kehrte die Kommission nach Djakarta zurück, nachdem noch am vorletzten Tag — manche kritisierten: erst am vorletzten Tag — der Versuch unternommen worden war, die Vermutung zu belegen, daß die Zahl der Toten doch höher sei als die offizielle Zahl von 19. Entgegen vieler Erwartungen hatte die Kommission bei den Exhumierungen keine Hinweise auf weitere Opfer gefunden, und noch bei der Rückreise aus Dili gab Djaelani in einem Interview kund, daß es offensichtlich nicht mehr Tote als offiziell bereits genannt gegeben hätte.

Zurück in Djakarta ging es schnurstracks zum Präsidenten; es wurde informiert, und was nun folgt, ist eine typisch „indonesische“ Lösung.

Am 27. Dezember, also fast zwei Wochen nach der Rückkehr, meldeten Zeitungen, daß die Kommission nach gewissenhafter Prüfung der Ereignisse und zahlreicher Zeugenaussagen zu bestimmten Ergebnissen gekommen sein. Der Präsident Suharto vorgelegte Bericht, in voller Länge in der Tageszeitung 'Kompas‘ abgedruckt, kritisiert offen das Vorgehen der Militärs, das ohne Befehl von oben seine Kompetenzen überschritten habe, und prangert das Verhalten der Militärbehörden an, die den Familien jegliche Identifizierung der Opfer verweigerten. Er hält auch die Schwierigkeit der Kommission fest, zu validen Zeugenaussagen zu kommen, weil sich offenkundig eine ganze Reihe von Augenzeugen und Betroffenen vor Repressalien seitens des Militärs fürchteten. Und im zweiten Punkt heißt es: „Wenn auch nach unseren Zählungen die Zahl der bei dem Zwischenfall ums Leben Gekommenen nach wie vor bei 19 liegt sowie bei 91 Verletzten, so sieht doch die Kommission genügend Anlaß für die Annahme gegeben, daß die Zahl der Toten etwa bei 50 liegt und die Zahl der Verletzten 91 überschreitet.“

Schuld, aber noch vertretbar

Die Reaktionen der Öffentlichkeit schwanken zwischen Betroffenheit und Sarkasmus. War die Zahl 50 nicht vielleicht eher ein Zugeständnis an die Erwartungen im Ausland? Hatten nicht einige Zeitungen und Beobachter gar von über 100 gesprochen? So gesehen, erscheint die Lösung „etwa bei 50“ fast wie ein genialer Schachzug, als eine Art Einigung auf die goldene Mitte, ein Eingeständnis von Schuld zwar, aber in noch vertretbaren Ausmaßen.

Inzwischen hat sich Präsident Suharto bereits dreimal über Funk und Fernsehen bei der Bevölkerung entschuldigt. Die Presse genießt zweifellos wesentlich mehr Freiraum als vor dem 12. November — und nutzt ihn teilweise auch. Nicht nur wurde das am 12. November durchgedrehte Bataillon 303, eigentlich in Westjava stationiert, zurückberufen, auch die für Osttimor zuständigen Generäle Sintong Paijaitan und R.S. Warouw wurden abberufen. Funktion und Rolle des Militärs werden offen diskutiert — eine kleine Sensation, wenn man bedenkt, daß bislang jede kritische Äußerung über die Armee als Zeichen subversiven Denkens galt. So gesehen, war der 12. November fast ein Glückstag in der Geschichte Indonesiens. Ein blutiger.

Der Autor ist Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Literatur und Linguistik, zur Zeit an der Universität Padjadjaran im indonesischen Bandung.