Die Fallstricke einer „kantonalen Lösung“ für Bosnien

■ Das Verfassungsprojekt der serbischen Volksgruppe hätte einen gigantischen, in der Praxis nicht durchführbaren Bevölkerungstausch in Bosnien-Herzegowina zur Folge

Seit der serbisch-kroatische Brand auch in der Republik Bosnien-Herzegowina schwelt, ist von Vertretern der serbischen Volksgruppe die „kantonale Lösung“ ins Gespräch gebracht worden. Sie besagt im Kern, die Republik in Kantone aufzuteilen, denen nicht nur national- kulturelle Autonomie zustünde, sondern eine umfassende Gesetzgebungs und Verwaltungskompetenz. Der Zentralregierung bliebe nur die Zuständigkeit in wenigen Bereichen wie der Verteidigung oder der Außenpolitik. Staatsvorhaben, die die Kantone überschreiten, zum Beispiel ökonomische und infrastrukurelle Entwicklungsvorhaben, bedürften der einmütigen Billigung der Kantone beziehungsweise einer durch sie gebildeten Kammer.

Die „kantonale Lösung“, die nach der Konferenz aller Volksgruppen Bosnien-Herzegowinas in Lissabon zur offiziellen Verhandlungsposition des serbischen Führers Karadjic avancierte, wurde von der bosnisch- muslimanischen Seite bislang strikt abgelehnt. Dafür gibt es einleuchtende Gründe. Die „Demokratische Aktion“, Partei der Muslimanen, vertritt die Linie einer „Republik der Bürger und der Menschenrechte“ bei der die Volkszugehörigkeit und damit auch Volksgruppenrechte nur eine sekundäre Rolle spielen.

Aber selbst wenn sich die Muslimanen der Not gehorchend mit der kantonalen Lösung einverstanden erklärten, stünden ihrer Verwirklichung zwei Hindernisse im Weg. Zum einen sollen nach Vorstellung der Serben die Kantone auf der Basis der Volkszugehörigkeit gebildet werden. Aber geschlossene Siedlungsgebiete — wie die kroatisch dominierte Westherzegowina oder die überwiegend serbische Krajina Bosniens — sind die Ausnahme. Vor allem in den industriell entwickelten Tälern der Bosna, der Neretva und der Hauptstadt Sarajevo selbst sind die drei Volksgruppen der Kroaten, Serben und Muslimane hoffnungslos versippt.

Karadjic hat andererseits keinen Zweifel daran gelassen, daß ohne „ethnische Homogenisierung“, also einen groß angelegten Bevölkerungs-Zwangstausch, an ein Verwirklichung des Projekts der Kantone nicht zu denken ist. Ein zweiter Hinderungsgrund liegt darin, daß die serbische Seite den Kantonen das nationale Selbstbestimmungsrecht auch nach einer Verfassungsreform zugestehen möchte. Das würde darauf hinauslaufen, daß die serbischen (oder kroatischen) Kantone sich jederzeit von der Republik abtrennen und ihren respektiven „Mutterländern“ anschließen könnten. Übrig bliebe ein zerfledderter bosnisch-muslimanischer Rest, der sich schwerlich dem Vereinigungsdruck von seiten eines serbischen „Rumpfjugoslawien“ widersetzen könnte.

Historisch hat die kantonale Lösung in diesem Jahrhundert schon einmal eine Rolle gespielt: in Böhmen, bei der Auflösung der supranationalen Habsburger-Monarchie. Nach der Vorstellung der tschechischen Demokraten um Tomas Garrigue Masaryk und Eduard Benesch sollten die sudetendeutschen Siedlungsgebiete, die wie eine Zange Böhmen einschlossen, in Kantone aufgeteilt werden und Selbstverwaltungsrechte nach Schweizer Vorbild erhalten. Die Vertreter der Sudetendeutschen lehnten den Plan damals ab, da sie die Tschechoslowakei als illegitimes, künstliches Gebilde ansahen und Benesch kam als Präsident erst 1938 auf ihn zurück — als es zu spät war.

Auch dieses Projekt sah eine ethnische Definition der Kantone vor, konnte also das Problem nicht lösen, wie mit den gemischten Siedlungsgebieten zu verfahren sei. Brünn und Olmütz als die führenden Industriestädte Mährens waren damals genauso vermischt wie Sarajevo heute. Die Exilregierung Benes ist nach der Besetzung Böhmens durch die Nazis nicht mehr auf die „kantonale Linie“ zurückgekommen. Das Ergebis nach dem Zweiten Weltkrieg ist bekannt.

Vom Prinzip her wäre eine Gliederung nach Kantonen geeignet, das Selbstbestimmungsrecht innerhalb eines multinationalen Staatsgebiets zu verwirklichen. Voraussetzung wären — wie im Fall der Schweiz — funktionierende bundesstaatliche Organe und gesicherte Bürgerrechte. Vor allem das Recht jedes Bürgers zu wohnen, wo es ihm paßt. Der Gedanke kantonaler Selbstverwaltung müßte der entscheidende sein, nicht die ethnische Segregation.

Unglücklicherweise bietet aber gerade die jüngste Geschichte der Schweiz ein Beispiel für die umgekehrte Entwicklung. Nach der Sezession des frankophonen Jura vom Kanton Bern sind es nur noch zwei Schweizer Kantone, die wirklich „gemischt“ sind: Fribourg und Vaud. Und auch in ihnen macht sich die zunehmende Entfremdung zwischen dem deutsch-schweizerischen und französischen Bevölkerungsteil geltend. Woraus folgt, daß selbst ein so uraltes und tief verwurzeltes Verfassungssystem wie das der Schweiz zentrifugalen gesellschaftlichen Kräften auf Dauer nicht standhalten kann.

Selbst wenn man guten Willen bei allen Beteiligten voraussetzen würde: Die Aussichten stehen schlecht, mit der „kantonalen Lösung“, also mit den Instrumenten der Dezentralisierung und der Selbstverwaltung die Staatskrise in der von der Geschichte schon so schwer gebeutelten Republik Bosnien-Herzegowina zu entschärfen. Christian Semler