Noch stehen die Widder

■ Ein unglücklicher Versuch, ein Industriedenkmal zu sanieren: die alte Wollkämmerei in Delmenhorst

Der Widder war das Symbol des Unternehmens. In Delmenhorst prangt ein Ziegel-Widder am Wasserturm der ehemaligen „Norddeutschen Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei“. Auf einem alten Eingangstor steht dasselbe Tier aus Bronze und guckt dumm in die benachbarte Arbeitersiedlung. Auch in Bremen stößt man auf steinerne Vertreter der Gattung. Widderköpfe und Schäferdarstellungen verweisen am „Haus des Reichs“, dem ehemaligen Firmensitz der NW&K, auf den Bauherrn.

Als die patriarchalischen Direktoren, die Brüder Lahusen, 1928 den Bau des Bremer Verwaltungsitzes in Angriff nahmen, wußten sie bereits, daß ihr Unternehmen am Ende war. 1931 brach es zusammen; alle Räder der Delmenhorster Fabrik, gegründet 1884, standen still. Zwar fanden sich in den späteren Jahrzehnten immer wieder Nachfolgeunternehmen, doch sie erreichten nicht mehr die einstige Größe der NW&K, die in ihren besten Jahren ein Viertel des Wolle-Weltmarkts beherrscht hatte. Die roten Ziegelhallen blieben, doch das alte Leben kehrte nicht wieder.

Ein Glücksfall für den Denkmalschutz: dank reduzierter Nutzung blieb die Industriearchitektur erhalten. Die Delmenhorster „Nordwolle“ gehörte unter den geschlossen erhaltenen Industrieanlagen der Gründerzeit zu den größten.

Nachdem jedoch das letzte Folgeunternehmen der NW&K in Konkurs gegangen war, beschloß die Stadt Delmenhorst, das innenstadtnahe Areal zu sanieren. Ein Braunschweiger Architekten

Hier sollte das Projekt „Wohnen im Denkmal“ erblühen: die alte WollkämmereiFoto: Archiv

büro (Stracke & Blume) wurde Anfang der 80er Jahre damit beauftragt, die Umwandlung der Industriebrache in ein Wohnquartier zu zeichnen. Die Sanierung begann mit Enthusiasmus: Die Vereinigung von Wohnen und Denkmal sollte vorbildlich werden. Doch die Ernüchterung kam schnell. Es verging kaum ein Jahr ohne Abrisse. Inzwischen erscheint die noch vor fünf Jahren bis in das kleinste Detail erhalten gebliebene Industrieanlage als Fragment.

Die übriggebliebenen Bauten stehen inmitten einer Industriebrache, ihres einstigen Zusammenhalts beraubt. Auch das letzte Gebäude der Fremdarbeiter-Ka

hierhin bitte die

ruinöse Mauer, durch deren

Löcher man eine

Fabrik sieht

sernen, die 1888 errichtete sogenannte Enklave, soll nun weichen. Der Bau ist wie viele andere zwar kein Kunstwerk, doch gehört er zum Kontext, verdeutlicht ein Stück Delmenhorster Sozialgeschichte.

Der Bremer Architekt Heinrich Deetjen, ein Neugotiker, war von 1897 bis 1914 für die Neubauten der „Nordwolle“ verantwortlich. Er schuf eine Ziegel-Architektur die reich an Profilierungen und Gesimsen ist, eine historische Architektur, die das Unternehmen würdig repräsentieren sollte. Die Ausbildung der Details, der Gesimse und Fensterbrüstungen ist an fast allen Bauten gleich. Dennoch unterscheiden sich die

Gebäude in ihren Großformen deutlich voneinander.

Die Schauseite der Nordwolle, zur Bahnlinie hin, blieb vollkommen erhalten, zum Teil wurden ruinöse Häuser detailgetreu rekonstruiert. Erst hinter der Schauseite sieht man die breiten Lücken. Von den weitläufigen Sheddachhallen sind nur die Fassaden stehengeblieben. Dahinter entstehen Wohnhäuser von erstaunlicher Belanglosigkeit. Rund um die ersten Neubauzeilen erstrecken sich weite von Planierraupen eingeebnete Sandflächen. Noch muß man durch manches tote Fenster stehengebliebener Fassaden blicken.

Einige sanierte Bauten haben neue Seitenwände bekommen, da die Nachbarbauten abgerissen wurden. Statt Brandmauern zu lassen, haben die Architekten neue Fassaden entworfen — eine Mischung aus Alt und Neu ist entstanden, die den Betrachter an der Authentizität der Bauten zweifeln läßt.

In der kirchenschiffähnlichen Turbinenhalle, versehen mit einer technisierten Fensterrosette, wurde inzwischen ein sogenanntes Industriemuseum eingerichtet. Es ist kein Zufall, daß die erhaltene Anlage von musealer Qualität erst zerstückelt werden mußte, bevor eine museale Attrappe aus den geretteten Stücken hergerichtet werden konnte.

Die große Chance, eine Industrieanlage in ihrer Gesamtheit zu erhalten, ist nun endgültig vergeben. Fragen werden aktuell, die vor 10 Jahren hätten beantwortet werden müssen: Warum hat man die alten Gebäude nicht als funktionslose Ruinen sichern können? Warum hat man sie nicht wenigstens kleinen Gewerbetreibenden überlassen, anstatt mit Gewalt ein Industriegebiet in ein Wohngebiet umzuwandeln?

Nachdem die Einheit fragmentiert worden ist, liegt es in der Hand der Planer und Architekten, das Verbliebene zu erhalten und auf den Brachflächen einen guten Ersatz für das Verschwundene zu schaffen. Noch immer sind die Voraussetzungen keine schlechten: Noch immer wachsen alte Bäume auf dem Gelände, noch immer haben zahlreiche Hallen der Sanierung widerstanden, und noch immer stehen die Widder auf ihren Sockeln. Nils Aschenbeck