»Wie ein Blutegel«

■ Monika Maron las in der Schiller Theater Werkstatt aus ihrem neuen Buch »Stille Zeile Sechs«

Sie taucht aus dem Dunkel der Hinterbühne auf, tritt an das Stehpult, nimmt einen Schluck Wasser, klappt den Pultdeckel auf, holt die Lesebrille und das Buch heraus. Klappe zu, Licht an — Monika Maron liest. Kein Blick ins Publikum, kein Gruß. Ihre Augen werden sich während der ganzen Lesung auf ihre Zeilen heften, der Körper und die Mimik regungslos bleiben. Nach ihrem letzten Satz wird sie die Bühne schweigend und schnell verlassen. Theater des Wortes.

Stille Zeile Sechs, der Titel ihres im vergangenen Herbst erschienenen Buches, ist die Adresse des Stasi-Funktionärs Beerenbaum in einem feinen Ostberliner Stadtviertel. Zu dieser Adresse führt der tägliche Weg der Ich-Erzählerin Rosalind Polkowski, einer eigentümlich verbittert wirkenden Historikerin. Die 42jährige hängte ihren Job in einem Forschungsinstitut an den Nagel, mit dem Gefühl, in ihrem Leben nichts geleistet zu haben. Ihre neue Beschäftigung wird zur Auseinandersetzung mit der Generation ihres Vaters. Beerenbaum fungiert als Stellvertreter dieser Generation und als ihr Gesprächspartner: Rosalind schreibt seine Memoiren auf, weil es der Kommunist Beerenbaum wegen seiner Lähmung selbst nicht mehr kann.

Als sie ihn zu seiner Vergangenheit befragt, beginnt aus seiner Nase Blut zu tropfen. Sie bohrt weiter, bis sein Taschentuch trieft, »wie ein Blutegel«, dann erst läßt sie von ihm ab. Sie fühlt sich als Opfer, um ihr Leben betrogen, der Kommunismus erscheint ihr als Fratze. Ihr Vater, ein überzeugter SED-Funktionär und zugleich ihr Schuldirektor, erzog sie »politisch« und machte ihr klar, daß er selbst als Antifaschist Opfer war. Für sie wurde der Vater wie Beerenbaum und alle anderen »Doppelkinngesichter« zum Täter.

Rosalind schildert einen Streit in ihrer Kindheit über dieses Thema. Sie will dem wütenden Vater erklären, daß Opfer immer auch Täter sind: »Ich kämpfte um die Schuld des Opfers wie um mein Leben.«

In diesen Konflikt verstrickt sie sich dann selbst. Sie, die in ihrem Leben nichts vorzuweisen hatte, was sie zu Fragen berechtigt hätte, kommt mit ihrer Opferrolle und Frage nach der eigenen Schuld nicht zurecht. Sie entdeckt sich dabei, den Tod des Vaters zu wünschen. Als Beerenbaum stirbt, hat sie ein schlechtes Gewissen, bei der Beerdigung dabei zu sein, weil ihr sein Ableben »eher willkommen« erscheint. Vom Tod der Täter macht sie alles abhängig. Sie glaubt, erst nach dem Verschwinden der Täter über ihr eigenes Leben Bescheid zu wissen. Und gesteht sich selbst ein, daß es dann zu spät sein würde. Trotzdem besuchte sie Beerenbaum »sogar« im Krankenhaus, um sich mit ihm zu versöhnen: »Er lebte noch, und es war unmöglich, ihn zu hassen.«

Monika Maron reiht Satz an Satz, monoton, ohne Pause. Die Stimme klingt kühl, distanziert, gleichzeitig mit einem feinen anklagenden Unterton. Die Autorin tritt immer mehr zurück hinter der Ich-Erzählerin Rosalind. Als Rosalind eine Szene mit ihrem Vater beschreibt, in der sie noch erwartungsvoll neben dem Eßtisch steht, als er den Raum schon verlassen hat, verwechsle ich für einen Moment die Autorin am Stehpult mit dem Mädchen am Eßtisch.

Tatsächlich gibt es Parallelen zwischen der Biographie Monika Marons und der ihrer Hauptperson. Monika Maron wurde 1941 in Berlin geboren. Ihr Vater Karl Maron war ein aktiver deutscher Kommunist, nach dem Krieg ein maßgebliches Mitglied der KPD/SED und acht Jahre lang DDR-Innenminister. »Natürlich hatte ich ähnliche Konflikte mit meinem Vater«, sagt Monika Maron mir nach der Lesung, aber ein autobiographisches Buch sei es trotzdem nicht. Den Konflikt ihrer Hauptperson Rosalind Polkowski habe sie nicht, sie schreibe schließlich Bücher, sagt die 51jährige Autorin, die 1988 von der DDR nach Hamburg gezogen war. »Es wäre vielleicht mein Konflikt, wenn ich keine Bücher schreiben würde.« Corinna Emundts

Monika Maron: Stille Zeile Sechs . Roman, 230 S., S. Fischer Verlag, geb., 34 DM.