ESSAY
: Deutsche Historiomanie

■ Zu dem Umgang mit diversen Vergangenheiten und Gegenwarten

Ein Gespenst geht um in Deutschland: das Gespenst der Vergangenheit. Seit dem Mauerfall, verstärkt noch im letzten und in diesem Jahr, beschäftigt sich die ganze Nation, die mehr oder weniger freiwillig wieder zu einer wurde, mit dem Nachdenken darüber, was sie war und was sie ist, wenn auch übertönt von dem Geschrei derer, die allenthalben Schlußstriche ziehen wollen. In den Medien dominiert derzeit die Stasi- Debatte, so als ob der Westen das Land der blühenden weißen Westen wäre. Darunter aber greift die Diskussion weiter aus und rüttelt an den Überzeugungen von gestern: ob es nun um den Nationalsozialismus und den verordneten Antifaschismus der DDR geht, um die in die Mottenkiste gepackten Utopien der 68er-Generation im Westen oder um die Entspannungspolitik der 70er Jahre.

In Berlin ist diese Lüftung der Gedankenwelt vielleicht am deutlichsten spürbar. Durchzug herrscht, seit die Glasglocke über dem Osten und der Westberliner Insel verschwand. Durchzug, der einerseits die konservierten Gespenster der Vergangenheit hochwirbelt und Neonazis und Ausländerhassern Auftrieb verschafft, der andererseits aber auch die notwendige Leere für neue Ideen schafft. Es gibt derzeit ein ebenso merkwürdiges wie erfreuliches Phänomen in Berlin, das einen Indikator für ein stark gewachsenes Bedürfnis nach Reflexion und Neuorientierung der eigenen „deutschen“ Identität darstellt: Ob nun das Rahmenprogramm der Ausstellung Jüdische Lebenswelten, der Kongreß „Zur Psychoanalyse deutscher Wenden“ oder andere nachdenkliche Veranstaltungen angeboten werden — sie sind fast immer alle vollbesetzt und oft sogar restlos ausverkauft. Nicht immer sind die Diskussionen niveauvoll, aber sie finden statt.

In Berlin, wo sich die Verbindungen der Vergangenheit erst seit dem Wegfall der Grenzen wieder zusammenfügen, geschichtelt es überall: Die einen diskutieren die Zukunft des Geländes der ehemaligen Reichskanzlei, die anderen rennen auf der Suche nach historischen Spuren durch die Stadt, die dritten streiten sich um die „Gedenkstättenlandschaft“. Selbst der Bundestag mochte da nicht abseits stehen: Präsidentin Rita Süssmuth weihte vor kurzem ein Mahnmal für alle von den Nazis ermordeten Reichstagsabgeordneten ein, nachdem man sich jahrzehntelang in Bonn dagegen gesperrt hatte, an die Verfolgung der KPD-Abgeordneten zu erinnern und erinnert zu werden. Fast könnte man schon lächeln über die neue Historimania. Die deutsche Gründlichkeit, die zuerst zum industriellen Massenmord und dann zur dichtesten Spitzelbürokratie führte, scheint endlich umgelenkt in produktivere Gedankengefilde, wo man denn dafür streiten darf, daß auch die flüchtigsten Fußabdrucke in den Nebengassen der Geschichte konserviert werden.

Auch in der Literatur und der Filmproduktion dominieren die Versuche, sich die eigene Geschichte wiederanzueignen und Verdrängungen aufzuheben. Auf der Berlinale beispielsweise thematisierte Helke Sander in ihrem Dokumentarfilm BeFreier und Befreite die Vergewaltigung von rund zwei Millionen deutschen Frauen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Diese Pionierleistung ermöglicht die Eröffnung einer 47 Jahre lang tabuisierten Debatte über die Spätfolgen jener Massenvergewaltigung, die im politischen Raum der Nachkriegszeit nicht nur das schlechte Wahlergebnis der KPD, sondern auch das restaurative Mutti-Bild der 50er Jahre erklären helfen könnte.

So wohltuend diese Massenproduktion von Rückerinnerung und Geschichtsaneignung auch ist, so muß man sich doch die Frage stellen: Warum erst jetzt? Und was ist mit dem blinden Fleck der Gegenwart? Im Reader zum Kongreß „Psychoanalyse deutscher Wenden“ stellte der Ostberliner Psychotherapeut Michael Froese die These auf, daß „Extremtraumatisierte“ wohl erst nach 10 oder 15 Jahren in der Lage sind, über die Ereignisse und Gefühle zu sprechen. Dies weitergedacht, wäre es kein Zufall mehr, daß erst die Studentenbewegten von 1968 ihre Väter mit der Frage „Was hast du in der Nazizeit gemacht?“ zur Weißglut brachten, daß also immer erst die nächste Generation die entscheidenden Fragen stellt. Ist das ein Grund dafür, warum die im elektronischen Zeitalter fast schon in Echtzeit initiierte Stasi-Debatte nur über die Medienrituale der Verurteilung und der Rechtfertigung, nicht aber zwischenmenschlich und politisch, zwischen oft sprachlosen Opfern und sprachunfähigen Tätern funktioniert?

Die zweite Gefahr der Vergangenheitsdebatte ist indes noch größer: Sie frißt die Gegenwart auf. Es ist, als ob wir alle in das Reich der Freien und Glücklichen heimgekehrt seien. Die Geheimdienste der Bundesrepublik, die zwar sicherlich nie das Ausmaß von Stasi und Metastasi annahmen, aber doch mit ähnlichen Strukturen und filigranen Erpressungsmethoden zum Beispiel bei der V-Mann-Produktion arbeiten, kommen ungeschoren davon. Das allein ist schon ärgerlich genug. Schlimmer noch ist jedoch der Triumphalismus, das kapitalistische Modell habe nun endgültig bewiesen, daß es alle Probleme der Ökonomie lösen könne.

In Wirklichkeit aber ist das Industriesystem weltweit ins Schlingern geraten. Die Wirtschaftskrisen in den USA und im ehemaligen Ostblock, wo seit dem Mißerfolg der Perestroika kein Silberstreif des Erfolgs beim privatwirtschaftlichen Umbau mehr sichtbar ist, sind so gesehen nur zwei Seiten einer Medaille. Ganz zu schweigen von der ausgeplünderten „Dritten Welt“. Die Berliner AL-Politikerin Hilde Schramm formulierte es kürzlich in der Debatte um die deutschen Vergangenheiten so: „Die heutige Verdrängung zentriert nicht um den Nationalsozialismus, sondern um die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Das hat keinerlei Neuigkeitswert, das ist ganz langweilig, aber es ist wahr.“

Schon Erich Kästner scheint diese Zusammenhänge gekannt zu haben. Anfang der 30er Jahre läßt er den Redakteur Malmy in seiner Erzählung Fabian Sätze sagen, die heute treffender sind denn je: „Wenn das, woran unser geschätzter Erdball heute leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie habe die Paralyse. Und sicher ist Ihnen allen bekannt, daß dieser unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur heilbar ist, bei der es um Leben und Tod geht. Was tut man mit unsrem Globus? Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten und Tee trinken, denkt man, und so schreitet die öffentliche Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist... Wir gehen an der seelischen Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen, daß es sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern. ,Wozu sind die andern da?', denkt jeder und wiegt sich im Schaukelstuhl...“

Und so dürfen wir uns nun die Frage stellen, wie wir wohl in zwanzig Jahren unsere Vergangenheit bewältigen werden, wenn vielleicht hunderttausend von „Extremtraumatisierten“ aus Schwarzafrika oder dem Nahen Osten die „Festung Europa“ erstürmen und Wiedergutmachung für die Verbrechen der Uranausbeuter, Waldabholzer, Wüstenproduzenten und Waffenlieferanten fordern. Ach ja, durch das Ozonloch hindurch wird uns die Sonne freundlich zugrinsen. Ute Scheub