Schüsse auf Friedensdemo in Bosnien

Die Regierung der von Moslems, Serben und Kroaten bewohnten Republik Bosnien-Herzegowina kommt Forderungen der serbischen Minderheit nach/ Barrikaden in Sarajevo wieder abgebaut  ■ Aus Sarajevo Roland Hofwiler

Jede Seite hat ihre Märtyrer. Drei Tote Moslems als Rache für einen am Sonntag getöteten Serben. Diese Rechnung steckt in den Köpfen radikaler Serben und Barrikadenbauer, die allein in der Nacht auf Dienstag im Zentrum Sarajevos auf eine Friedensdemonstration schossen und mindestens drei Menschen schwer verletzten. Die Zahl derer, die im Großraum der bosnischen Hauptstadt in den letzten Tagen ihr Leben ließen, wird nun bereits auf ein Dutzend geschätzt. Vor der laufenden Kamera des TV-Senders Vibrations, eines Jugendsenders, der sonst nur Music-Clips vom Band laufen läßt, erklärten vermummte Barrikadenkämpfer: „Es werden noch mehr von den scheiß Moslems über die Klinge springen, wenn die nicht auf uns hören.“

Am späten Montag abend hatten sich an die tausend Einwohner der bosnischen Hauptstadt Sarajevo im historischen Marktviertel zu einem Demonstrationszug für Frieden und Besonnenheit formiert. Es waren Bürger aller Nationen, die hier in den Bergen bunt zusammengewürfelt leben und ein Zeichen setzen wollten. Ein Zeichen gegen diejenigen, die Sarajevo mit Barrikaden und ständigen Warnschüssen in die Luft terrorisierten. Der Zug formierte sich, vorbei an den Wahrzeichen der Stadt, der Havadza-Durak-Moschee, der alten serbisch-orthodoxen Kirche, der sephardischen Synagoge, weiter zur römisch-katholischen Kathedrale, weiter durch die Stadt in Richtung der ersten Straßenbarrikade. Dann fielen Schüsse. Ohne Warnung. Mindestens drei Personen wurden verletzt. Unter den Demonstranten brach Panik aus.

Erst dann in Radio und Fernsehen die Meldung, die Regierung habe sich auf einer Krisensitzung mit der „Serbischen Demokratischen Partei“ (SDS) verständigt, die offen die Verantwortung für die Errichtung der Barrikaden übernommen hatte, und werde deren Forderungen erfüllen. Vorerst würden also keine weiteren Schritte in Richtung Unabhängigkeit der ex-jugoslawischen Republik Bosnien-Herzegowina unternommen. Die Volksabstimmung über eine Loslösung Bosnien-Herzegowinas von Jugoslawien bedeute keine Festlegung auf die „künftige Organisation“ der Republik. Am Referendum über die Zukunft der Republik, deren Bevölkerung sich aus 44 Prozent Moslems, 31 Prozent Serben und 17 Prozent Kroaten zusammensetzt, hatten sich am Wochenende 63 Prozent der Bürger beiteiligt — und von diesen entschieden sich 99,4 Prozent für die Unabhängigkeit.

Die SDS, die führende Partei der Serben, hatte zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Nach Bekanntwerden der Regierungserklärung rief sie über das Fernsehen alle bewaffneten serbischen Zivilpersonen auf, die Barrikaden zu räumen und nach Hause zu gehen. „Wir haben nicht kapituliert“, betonte Rajko Dukić, Sekretär des SDS-Exekutivkomitees. So schnell wie in der Nacht auf Montag die Barrikaden entstanden, so schnell verschwanden sie wieder. Mit ihnen auch die militanten Serben. Mit ihnen auch jene, die auf den friedlichen Demonstrationszug schossen.

Doch wird offenbar nicht nach ihnen gefahndet. Alle Barrikadenkämpfer müssen straffrei ausgehen, so hatte es die serbische Partei verlangt. Und so beugten sich die moslemischen Politiker dem Diktat, während sich die kroatischen in Schweigen hüllten. In den Dienstagausgaben der lokalen Zeitungen Dutzende Erklärungen von Parteien und Politikern, von Altkommunisten, Liberalen bis hin zu Umwelt- und Friedensgruppen, die alle ihre Ansichten zur Lage in Bosnien kundtun. Doch es fehlen die kroatischen Stimmen. Eine Haltung, die zur Besorgnis Anlaß gibt.

Die Gazi-Husrevbeg-Moschee, für das alltägliche Gebet das bedeutendste islamische Gotteshaus, wird an diesem Dienstag stärker besucht als sonst. Während im Gebetshaus um Allahs Beistand ersucht wird, diskutiert man vor dem historischen Springbrunnen erregt die letzten Entwicklungen. Hier im Garten der Moschee sind die Töne militant. Man könne nicht auf das Diktat der Serben eingehen — und die Toten, die dürften nicht vergessen werden. Was in den Köpfen der „grünen Barette“ vorgehen mag, jener Jugendlichen, die mit Waffen und militärischer Kleidung zum Gebet kommen, läßt sich kaum erraten. Sie lassen sich in keine Diskussion ein. Einer im Vorbeigehen: „Wir werden uns rächen, entweder Frieden in Allahs Namen oder Krieg, aber hier ist nicht Serbien!“

Stimmen von radikalen Außenseitern? Auf den ersten Blick hat gestern jedenfalls der Alltag in Sarajevo wieder Fuß gefaßt. Keine Straßensperren mehr. Die Geschäfte haben geöffnet, in den Fabriken, Schulen und Bürohäusern herrscht Leben, die Blechlawinen der Autos verursachen den bekannten Wintersmog, das Fernsehen strahlt sein übliches Unterhaltungsprogramm aus, im Radio rieseln die neuesten Hits. Nur in den Kneipen, Teehäusern und Marktplätzen will kein Leben aufkommen. Man geht sich aus dem Weg. In türkischen Imbißbuden ertönt keine Volksmusik wie sonst, in einer serbischen Pizzeria hat der Wirt die serbischen Landschaftsbilder abgehängt. Aus Vorsicht. Denn Sarajevo verharrt in Spannung. Und der bosnische Präsident Alija Izetbegović, ein Moslem, warnt: „Nochmals Barrikaden, und ich werde Hunderttausende dagegen mobilisieren.“