Hungerstreik gegen die Behörde

Jüdische Kulturgesellschaft fordert konfiszierte Gebäude zurück/ Moskauer Behörden stellen sich taub  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Man kann den Juden vom Buche nicht trennen“, schrieb Heinrich Heine, es sei sein Reichtum und Schicksal. Zwischen staubigen, überladenen Bücherregalen einer gewöhnlichen Moskauer Zweizimmerwohnung an der Frunsenskaja Nabereschnaja hängt Heines Sentenz. Lenin gibt daneben seine Erkenntnisse über die progressive Rolle des Judentums im revolutionären Kampf preis. Seit fünf Jahren dient der kleine Flecken der „Jüdischen Gesellschaft für Kultur und Bildung“ in Moskau als Museum, Bilbliothek und Versammlungsort. Ihr einziges Refugium. Beschämend und einmalig zugleich beheimatet es die einzige Stätte in der ehemaligen SU, wo man dem Kampf der sowjetischen Juden gegen den Faschismus gedenkt und ihn dokumentiert. Schon lange reicht der Platz nicht mehr, im Flur, in der Küche, überall stapeln sich die noch verschnürten Bücherpakete aus aller Welt bis unter die Decke.

Bis heute muß das Rentnerehepaar sein Nachtlager zwischen den Büchern aufschlagen, obwohl die Kulturgesellschaft 1989 registriert wurde. Mit anderen Räumlichkeiten Abhilfe schaffen, konnten oder — so sieht es Jurij Sokol, hochdekorierter Oberst des 2. Weltkriegs — wollten die Behörden nicht. Ende September vergangenen Jahres verfügte der Moskauer Bürgermeister zwar, binnen zwei Wochen eine Ausweichmöglichkeit zu finden. Bis heute habe sich jedoch nichts getan. Sokol erklärte auf einer von den Medien gemiedenen Pressekonferenz, er werde in einen unbefristeten Hungerstreik treten. Den Beteuerungen der Behörden, die Verzögerungen hingen nur mit der chaotischen Situation zusammen, zum Trotz.

Für ihn fügt sich alles zu einem konsistenten Bild. Die Regierungen Moskaus und Rußlands duldeten den zunehmenden alltäglichen Antisemitismus im Lande. Die alten Kommunisten dürften ungestört judenfeindliche Hetze betreiben. Rußlands Vizepremier Rutskoi spräche auf dem gleichen Konvent „patriotischer Kräfte“ wie der Berufsantisemit Wassiljew der Bewegung „Pamjat“. Und das ohne Widerspruch oder Protest. Einige Meter entfernt vom „Museum“ residiert dagegen noch auf mehreren hundert Quadratmetern die „Antizionistische Gesellschaft“. Eigentlich überholt nach der Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte zwischen Rußland und Israel, sollte man denken, darf sie weiterhin unter dem Deckmantel antiimperialistischer Politik und Völkerrecht den Humus für Antisemitismus feuchtwarm halten. Von der demokratischen Regierung habe man mehr erwartet, meint Sokol unversöhnlich und voller Verbitterung. Dazu präsentiert er Daten einer fragwürdigen soziologischen Analyse, wonach drei Prozent der Moskauer aktiv an Pogromen teilnehmen und 20 Prozent sie dulden würden. Immerhin knapp zwei Millionen bei einer jüdischen Bevölkerung von einer Viertelmillion. Das trägt nicht zur Entkrampfung der Atmosphäre zwischen den russischen Journalisten und Sokol bei, der ihnen eingangs pauschal Desinformation und Desinteresse vorgeworfen hatte.

Vor der Enteignung durch Stalin in den 30er und 40er Jahren besaßen die jüdischen Organisationen über 50 Gebäude in Moskau, Bibliotheken, Theater, Schulen und Verlage. Darunter auch das Haus des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, dessen Mitglieder zwischen 1948 und '53 umgebracht wurden. Nicht alle, aber einige der Lokalitäten fordert die Gesellschaft zurück. Man sei dazu bereit, meinte der Stadtsowjet, aber wohin auf die schnelle mit deren jetzigen Mietern? Die Situation scheint verfahren. Man möchte auch von Sokol etwas mehr Geduld verlangen, in einer Zeit, in der alle ihre Interessen einklagen und verabsolutieren... Wären da nicht die Spätnachrichten des russischen Fernsehens gewesen, die die Tatsachen in altbekannter Manier manipulierten und wo sich ausgerechnet der Leiter des „Antizionistischen“ Vereins für die Rechte der „Jüdischen Gesellschaft“ stark machen durfte. „Der Faschismus steht vor der Tür!“ warnte Sokol. Er übertrieb. Doch Ereignisse wie diese tragen nicht dazu bei, die latenten antisemitischen Vorurteile in Rußland abzutragen.