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Chemische Zeitbombe in der Ostsee

Die Ex-Alliierten und Deutschland wollten auch bei den Genfer Chemiewaffen-Verhandlungen nicht über die 300.000 Tonnen Chemiewaffen reden, die sie im Skagerrak und in der Ostsee versenkt haben  ■ Aus Genf Andreas Zumach

Die Diplomaten der Genfer UNO- Abrüstungskonferenz gaben sich verschlossen. Keiner wollte sich erinnern an ein Dokument, das die norwegische Delegation schon am 26.Juni 1990 offiziell in die Verhandlungen über ein weltweites Chemiewaffenverbot eingeführt hatte. Schließlich hatten die Norweger es zwei Tage später kommentarlos zurückgezogen und bezeichneten es in der Folge als „nicht existent“. In Genf verstummen seitdem die Hinweise nicht, daß der Rückzieher seinerzeit auf Druck der USA, Großbritanniens, der Bundesrepublik Deutschland und der Ex-UdSSR erfolgte. Denn das norwegische Dokument — die Kurzfassung einer Studie des Verteidigungsministeriums in Oslo — enthielt Informationen über eine gefährliche Zeitbombe, die Alliierte und Deutsche vor einem knappen halben Jahrhundert legten: In den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges sowie in den Jahren bis 1949 versenkten Deutsche, Briten, US-Amerikaner und Sowjets über 300.000 Tonnen chemischer Waffen in skandinavischen Gewässern — vor allem im Skagerrak sowie in der Nähe der Ostsee-Inseln Bornholm und Gotland. Bei den Waffen handelte es sich um Artilleriegranaten, Minen und Bomben, gefüllt mit hochgiftigen Senf- und Nervengasen (Tabun, Sarin, Phosgene), deren Behälter im salzigen Ostseewasser nach spätestens 40 bis 50 Jahren undicht werden. Zwei Schiffe mit insgesamt 5.000 Tonnen Nervengas versenkte Hitlers Marine noch kurz vor Ende des Krieges in der Lillä Belt, der Wasserstraße zwischen der dänischen Halbinsel Jylland und der Insel Fyn. Nach Kriegsende bildeten die vier alliierten Siegermächte einen „kontinentalen Abfallausschuß“ und beauftragten ihn mit der Beseitigung der 302.857 Tonnen chemischer Waffen, die noch in Deutschland und Großbritannien lagerten. Als einfachste, schnellste und billigste Methode erschien es der Kommission, die Waffen auf kriegsbeschädigte Schiffen zu laden und samt diesen in möglichst tiefen Gewässern zu versenken. Aus ganz Nordeuropa wurden Schiffswracks zusammengeholt. Ein Großteil der Schiffe wurde in den Häfen Kiel und Hamburg notdürftig zusammengeflickt, mit den Chemiewaffen beladen und dann von Schleppern bis zu ihrer vorbestimmten Versenkungsstelle geschleppt. Die Operationen leitete der Hamburger General Gotthard, der wiederum unter dem Kommando britischer und US- amerikanischer Offiziere stand, berichtet das „Bulletin of the Atomic Scientist“.

Die bislang am besten erforschte Abfallstelle sind die Norwegischen Tiefen (Norskeränden), 700 Meter tiefe Gewässer 35 Seemeilen südöstlich der norwegischen Küstenstadt Arendal. Eine norwegische Tauchergruppe fand im Sommer 1990 dort bis zu 15 Wracks. Bezeugt sind unter anderem auch die Versenkung von 3.000 Tonnen chemischer Waffen am 21. Dezember 1946 vor dem norddänischen Skagen sowie von zwei deutschen Torpedobooten am 10. Mai 46 nur 20 Seemeilen vor dem schwedischen Lysekil sowie eines ganzen Konvois britischer Schiffe acht Tage später an derselben Stelle. Schwedische Forscher gehen davon aus, daß allein in den nur 200 Meter tiefen Gewässern vor Lysekil neun Schiffwracks mit 18.000 Tonnen Nervengas lagern. Die Sowjetunion, deren Rote Armee einen großen Teil der von Hitler angelegten Chemiewaffen-Vorräte abgezogen hatte, versenkte zwischen dem 19. Mai 1947 und dem 10. Januar 1948 zwischen 36.000 und 50.000 Tonnen in der Ostsee — davon 5.000 Tonnen südlich von Gotland.

Bonn, Washington, London und Moskau wollten offensichtlich verhindern, daß diese bedrohlichen Altlasten aus dem Zweiten Weltkrieg offiziell zum Gegenstand der Genfer Chemiewaffen-Verhandlungen werden. Denn damit käme auch die Frage ihrer Beseitigung offiziell auf den Tisch — wie sie der vorliegende Vertragsentwurf über ein weltweites Chemiewaffenverbot auch für die seit 1945 angehäuften C-Waffen- Vorräte vorsieht. Die horrenden Summen für eine Bergung und Vernichtung der im Meer versenkten Chemiewaffen hätten dann die vier Verursacherstaaten aufzubringen.

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