Übers Meer

■ Filme aus Rußland bei den »Lebenswelten«

Noch bis zum 22. April zeigt das Arsenal im Kinosaal des Martin-Gropius-Baus um 20 Uhr jüdische Filme.

Die beiden Höhepunkte des Programms dieser Woche entstanden beide im revolutionären Rußland, während der Nachwehen der Neuen Ökonomischen Politik vor dem stalinistischen Terror. Die Brisanz dieses Zwischenstadiums ist ihnen anzumerken: Einerseits schwimmen sie mit in der Welle der Revolutionsfilme (Streik, Panzerkreuzer Potemkin, Oktober), andererseits bemängeln sie an diesen, daß sie sich nicht ans große jüdische Publikum im riesigen Gebiet des sogenannten »Ansiedlungsrayon« — zwischen Ostsee und Schwarzem Meer — wenden.

Am Donnerstag wird Seine Exzellenz (1928) von Grigori Roshal, einem Meyerhold-Schüler, gezeigt. Er erzählt die — für ihre Zeit höchst brisante — Geschichte des jüdischen Schusters Hirsh Lekert, eines Analphabeten aus Vilna, der zum feurigen Aktivisten des BUND (der jüdischen Arbeiterorganisation) wurde, nachdem er 1902 ein Attentat auf den Generalgouverneur der Stadt verübt hatte. Während viele prominente Mitglieder der KP Lekert zunächst unterstützten, distanzierte sich Lenin von diesem proletarischen Volkshelden, nicht zuletzt wegen der Konkurrenz, die der BUND immer noch zur KP darstellte.

Vor diesem Hintergrund versetzt Roshal, der unter Staatsaufsicht drehte, die Geschichte vorsichtshalber in einen Ort ohne Namen und erwähnt auch den BUND mit keinem Wort. Nicht nur die Auseinandersetzung zwischen Juden und Nicht-Juden bleibt aus, die gesamte Tendenz geht in Richtung gemeinsamer Klassenkampf. Vielleicht hat diese ängstliche Umdeutung der Geschichte aus Abhängigkeit von der offiziellen Doktrin dazu geführt, daß der Film auch stilistisch nicht auf eigenen Füßen steht, sondern sich in Montage- und Bildkomposition ganz auf das Eisensteinsche Modell stützt.

Viel freier, viel eigenständiger ist dagegen Horizont (1932) von Lew Kuleschow, der sowohl Kameramann bei der Roten Armee im Bürgerkrieg war als auch Maler und Bühnenbildner. Das mag erklären, warum der Film zwar für die Revolution wirbt, aber dennoch nie ein hämmernder Agitationsfilm ist. Auch das Zusammenwirken zwischen den Figuren und ihrem »Bilderrahmen« wird verständlich, das man so poetisch und fast zärtlich im Kino dieser Zeit kaum findet (jedenfalls nicht in der fast brutalen Graphik Eisensteins). Leo Horion wird im Ersten Weltkrieg eingezogen, desertiert, immigriert nach New York, sieht dort einen Teil seiner Familie scheitern und geht zur US-Armee, um mit den Weißgardisten die Revolution zu bekämpfen. Im Bürgerkrieg erfährt er, auf wessen Seite er steht: Er schlägt sich zu den Bolschewiki.

Das ist die Geschichte, aber der Film ist als das: Das Glitzern auf dem Meer wird aus dem Rücken zweier Figuren gefilmt, die von Amerika flüstern; Amerika, das ist ein enger Hinterhof mit Wäschestücken, die wie Gespenster aussehen; das ist ein riesiger Maschinenschlund, der Autoteile hervorspeit und die Arbeiter zu zerquetschen droht. Am beeindruckendsten aber ist Kuleschows Darstellung eines Kosaken-Pogroms. Man sieht panisch aufgeblähte Nüstern eines Pferdes aus der Froschperspektive (erinnert an Guernica), man sieht, wie die Dinge des Alltags zu Kriegsemblemen werden: ein rauchender Samowar im Schlamm, ein zerfetztes Kissen, dessen Federn der Frau in den Mund fliegen, die gerade von einem Kosaken bedrängt wird. Man muß filmisch schon sehr nah an den Geschehnissen dran sein, um mit so wenig Säbelrasseln auszukommen. Miriam Niroumand