Kreuzberger blicken auf die BVV herab

■ Serie: Berlin vor den Kommunalwahlen (Teil 6)/ Alle Kreuzberger Parteien bemühen sich um Nähe zu den Bürgern/ Deren Sorgen gelten vor allem den steigenden Mieten im einstigen Insel-Bezirk

Kreuzberger Bezirkspolitiker sind es gewohnt, daß sie mit ihrem Wahlvolk nicht von oben herab umgehen können. Das ergibt sich schon aus der Architektur des Sitzungssaals, den die Bezirksverordnetenversammlung im Rathaus Kreuzberg hat. Oben — auf Tribünen, die an der Wand befestigt sind — sitzen die Zuschauer. Unten — wie die Tiere in der Zirkusarena — rutschen die Bezirksparlamentarier auf ihren Stühlen hin und her und fragen sich, was jetzt wohl wieder von oben kommt.

Oft sind es eher die lautstarken Zuschauer als die Bezirksverordneten, die den Verlauf der Sitzungen diktieren. Dreimal mußte BVV-Vorsteher Norbert Michalski die letzte Sitzung am 19. Februar unterbrechen, bis endlich Ruhe herrschte. Zuvor hatten etwa 100 Mitglieder von Mietergruppen die Sitzung mit einer Demonstration gegen die wachsenden Mieten empfindlich gestört. »Das ist doch Scheiße, was ihr hier redet!« rief ein bezirksbekannter Schreihals. Ein anderer schickte einen Papierflieger nach dem anderen auf den Sturzflug ins Parlament.

Gegen solche Störenfriede können die Bezirksparlamentarier fast ebenso wenig ausrichten wie gegen die steigenden Mieten. »Die Polizei dürfen wir nicht rufen«, erklärt der SPD-Mann Michalski. »Nicht auszumalen, was passieren würde, wenn bei einer Räumung ein Zuschauer von der Tribüne stürzen und sich verletzen würde.« Die Bezirksparlamentarier müssen sich den BürgerInnen folglich auf andere Weise nähern. Die SPD-KandidatInnen wollen vor den BVV-Wahlen 30.000 Hausbesuche machen, um ihre AnhängerInnen zu mobilisieren. »Das wäre dann jeder zweite Haushalt«, rechnet Spitzenkandidat Peter Strieder vor, der sich selbst vorgenommen hat, 5.000 bis 7.000 Klingeln zu drücken. Auch die CDU ist ängstlich um Bürgernähe bemüht. »Wir haben 20.000 Handzettel mit Fragen verteilt«, erklärt der Gesundheitsstadtrat und CDU-Listenführer Gerhard Engelmann, »um von den Bürgern zu erfahren, was ihre Hauptsorgen sind.« 100 Zettel kamen zurück. Sie vermittelten den Christdemokraten die überraschende Erkenntnis, daß die steigenden Mieten die Kreuzberger am meisten drücken.

»Sind die Wähler von heute noch die Kreuzberger von morgen?« fragen sich MietervertreterInnen. Die auslaufende Mietpreisbindung schreckt die BewohnerInnen von etwa 50.000 Altbauwohnungen. Und in vielen der 25.000 Wohnungen, die mit öffentlichen Mitteln gebaut oder modernisiert wurden, läuft in den nächsten Jahren die Sozialbindung der Mieten aus, etwa in der in den 50er Jahren erbauten Otto-Suhr- Siedlung.

Kreuzberg, das als Westberliner Sorgenkind stets überproportional gefördert worden war, muß jetzt mit dem noch ärmeren Osten teilen. Die Sanierungsmittel kürzte der Senat in diesem Jahr von 90 auf 47 Millionen Mark. »Damit können wir gerade noch 260 Wohnungen modernisieren oder instand setzen«, rechnet die grüne Baustadträtin Erika Romberg vor. Sanierungsbedürftig sind aber fast 5.000 Wohnungen.

Während die Grünen mit Erhaltungssatzungen und Milieuschutzverordnungen gegen preistreibende Luxusmodernisierungen vorgehen wollen, warnt die CDU davor, alte Bausubstanz zu konservieren. Man dürfe privatfinanzierte Modernisierungsmaßnahmen nicht mehr tabuisieren, fordert CDU-Fraktionschef Ralf Olschewski.

»Kreuzberg ist keine Insel mehr«, befindet der SPD-Verordnete Michael Rädler. Das spüren zur Zeit vor allem die Gewerbetreibenden. Um das Sechsfache zogen ihre Mieten seit dem Fall der Mauer an, ergab eine Studie des Vereins SO 36. Weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen konnten, mußten zur Jahreswende eine Fleischerei am Heinrichplatz und ein Blumenladen an der Zossener Straße schließen. Auch den in Kreuzberg zahlreich vertretenen sozialen Projekten droht inzwischen häufig das Aus. Letztes Opfer: ein Schülerladen in der Görlitzer Straße.

»Diese Explosion der Mieten kann der Bezirk nicht in den Griff kriegen«, warnt SPD-Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer. Durch Verhandlungen mit den Wohnungsbaugesellschaften konnte sie zwar die Zahl der Zwangsräumungen »auf ein Minimum reduzieren«. Trotzdem, da ist sich Junge-Reyer mit Romberg einig, müsse der Senat energischer gegen den Verlust von preiswertem Wohnraum vorgehen.

Während die Sozialstadträtin die Zukunft eher düster malt, plädiert SPD-Spitzenkandidat Strieder dafür, sich nicht im bloßen »Abwehrkampf« zu erschöpfen. »Der Wandel ist in erster Linie eine Chance«, glaubt der Arbeitsrichter, der als Bürgermeister das Erbe des scheidenden Günter König antreten möchte. Die Dienstleistungsfirmen, die sich ansiedeln wollten, brächten auch neue Arbeitsplätze mit, in den Kaufhäusern biete sich »ein breiteres Angebot«.

Hochhausbauten entlang der Kochstraße

In der SPD konnte sich Strieder mit seinen Vorstellungen durchsetzen. Im Schulterschluß mit der CDU plädieren die Sozialdemokraten nun dafür, entlang der Kochstraße auch moderne Hochhausbauten zuzulassen. Mit der Genehmigung neuer Gewerbebauten, argumentiert die SPD, könne man den auf den Gewerbemieten lastenden Druck etwas mildern.

Baustadträtin Romberg, die sich wie AL-Volksbildungsstadtrat Dirk Jordan nach den Wahlen in ihrem Amt bestätigen lassen möchte, wehrt sich gegen den Vorwurf der Verweigerungshaltung. Sie sei durchaus bereit, sich mit Investoren zusammenzusetzen. Dem Springer-Konzern handelte die energiepolitisch versierte Romberg so die Zusage ab, eine geplante zweite Hochhausscheibe an der Kochstraße mit Solarzellen auszustatten. Die Karstadt- Kette, die ihr Kaufhaus am Hermannplatz erweitern möchte, soll ein Blockheizkraftwerk einbauen.

Ist Kreuzberg einer der rot-grünen Bezirke, über die die Landes- CDU immer wieder Klage führt? »Nein«, sagt die AL-Verordnete Dortje Säum. In vielen Fragen, etwa bei ihrem Kampf gegen eine Öffnung der Oberbaumbrücke für den Autoverkehr, stehe die Igel-Partei allein da. »Wenn überhaupt, dann ist das ein schwarz-rot-grüner Bezirk«, glaubt SPD-Spitzenkandidat Strieder. In der Tat plädieren in Kreuzberg auch die Christdemokraten für mehr Mietpreisbindung, für Busspuren und Tempo 30. Schon Investoren hätten sich bei Besuchen in der BVV gewundert, erzählt Strieder: »In der Kreuzberger CDU sind ja auch nur Pullovertypen!« Hans-Martin Tillack

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