»Ich bin das Weiche, das Weichende«

■ Max Herrmann-Neißes Briefe aus Berlin, London und anderswo

Ich bin so hungrig auf Erleben, wie ein kleiner Pennäler. Alles fließt vorbei...«, schreibt Max Herrmann-Neiße am 29. Januar 1925 an seinen Freund Friedrich Grieger. Eine knappe, beiläufige Mitteilung bloß, in der sich aber bereits die zentralen Triebkräfte des eigenen Schreibens abzeichnen: das Gefühl, nur als Beobachter am Rande eines bewegten Lebens zu stehen, der Blick aus der Perspektive eines notorisch Unerwachsenen, vor allem aber eine unersättliche Neugier den Dingen und Geschehnissen der Großstadt gegenüber. Der Dichter Max Herrmann, nach eigener Einschätzung ein »hoffnungslos unpraktischer Provinziale«, sah sie, wie die Eingesessenen sie nicht mehr sehen konnten — oder wollten. »Berlin hat ja doch ein ganz anderes (aber kein erfreuliches) Gesicht«, notierte er 1917. Da wohnte er noch in Neiße, dem schlesischen Städtchen, das er später in seinem zweiten Nachnamen verewigte.

Neugier spricht aus jedem der (bislang unveröffentlichten) Briefe, die Klaus Völker zusammengestellt, bebildert und behutsam kommentiert hat. Und Neugier ist immer konkret. Kaum nach Berlin gekommen, beginnt Herrmann-Neiße, die Stadt kreuz und quer zu erkunden. Sein Interesse gilt dabei weniger den großen Wahrzeichen als den unbeachteten Ecken und Winkeln, den kleinen Eindrücken, die er quasi vom Pflaster aufliest. Als verspäteter Flaneur durchstreift er alte Geschäftsviertel, Kneipenstraßen, bürgerliche Wohnbezirke, sieht Hauseingänge, Schaufenster und heruntergekommene Treppenhäuser. Auch die Mißlichkeiten der eigenen Situation werden überaus anschaulich beschrieben. Das wenige Geld, das über Kritiken hereinkommt, reicht hinten und vorne nicht. Der arme Skribent zerbricht sich den Kopf, wie sich »ein kleines Unterkommen erwischen« läßt, putzt bei Verlegern die Klinke und zieht sogar in Erwägung, sich »um eine sozialdemokratische Redakteursstelle« zu bewerben. Immer wieder geht die Klage, die Berliner seien »so indolent und abschlägig, daß keiner dem andern was zulieb tut«. Wahrscheinlich war es damals nicht anders als heute.

Zuflucht vor der feindlichen Stadt gewähren die vielen Kneipen, Kaschemmen und Cafés. Max Herrmann-Neißes Briefe entwerfen eine Topographie der Orte, an denen sich die antibürgerlichen Kreise der »goldenen Zwanziger« — von Walter Mehring über Curt Bois und Valeska Gert bis hin zu Marlene Dietrich — gerne trafen: beileibe nämlich nicht nur im legendären »Romanischen Café« oder im »Café des Westens»; lieber kehrte man in »Mampes Guter Stube« am Kurfürstendamm, bei »Schwanneke« in der Rankestraße oder im geräumigen Lokal des Wirtsehepaars Maenz auf der Joachimsthaler ein. Bei »Schlichter« in der Ansbacher Straße gab es »zu mäßigen Preisen gutes hausgemachtes Essen, Bier, und, wenn man wollte, offenen badischen Landwein«. Nicht selten wurden dort auch »köstliche, in Trunkenheit dreidimensionale Reden« gehalten.

Mondäner das »Mustafa«, vielleicht eine Art früher Edel-Türke, oder das »Biguine«, Berlins erste »Negerbar«, gegenüber der Scala. »Herrliches Publikum: Huren, Zuhälter, sogenannte Verbrecher und dazwischen Publikum von Festen in großer Balltoilette und Frack«, schwärmt der schlecht betuchte Dichter, der sich in Ermangelung passender Garderobe manche Gelegenheit zum Ausgang entgehen lassen mußte. Doch irgendwo trifft man sich immer, im Kabarett, dem Herrmann-Neißes besondere Vorliebe galt, im Theater oder auch privat. »Neulich war ich abends bei Grosz, da war auch Benn, und es gab viel Alkohol«, heißt es einmal lapidar, und an anderer Stelle wird ein wahrhaft anstrengender Wochenplan vorgeführt: »Dienstag Ball des Gottschalk- Verlags (davon verspreche ich mir aber gar nichts), Mittwochs Ball von Reiss unter der Signatur ‘Vogelhochzeit‚, Donnerstag Gesellschaft bei Veilchenfeldts Schwager, dem Rechtsanwalt Beck, Freitags Loerkes Geburtstag, Sonnabend Privatball bei einem Dr. Schwiefert in Grunewald. Wie soll das enden?«

Gegen Ende der zwanziger Jahre ist der zwergenhafte Literat ein gerngesehener Plauderer und Party-Gast, bei den Wirtinnen der Stadt »wohl akkreditiert«, mit seinem Charakterkopf obendrein (nach einer Umfrage der Satire-Zeitschrift 'Das Stachelschwein‘) der »meistgemalte Mann im neuen Deutschland«. Doch in die Begeisterung über bohèmehafte Abendveranstaltungen mischt sich bei ihm immer mehr Überdruß. Er gilt der »unterirdisch-bösen Stimmung in Berlin«. Friedrich Grieger gegenüber erwähnt Herrmann- Neiße einen »schrecklichen Alptraum von roher Belästigung durch Nazis«. Mit Worten, die ebenso heftig wie klar sind, wehrt er sich dagegen, »am eigenen Leib einen Irrsinn mitzumachen, den ich nicht nur mißbillige, sondern seit ich denken kann, mit Herz und Hirn verabscheute und bekämpfte. Sterbt doch euren Heldentod allein! kann ich da nur in grausiger Variante sagen.« Deutlicher als viele andere sieht der als »unpolitisch« geltende Dichter, daß alle Zeichen auf Krieg stehen — und verweigert sich. Immer häufiger trottet er allein durch die Straßen, hält Ausschau nach »Schenken« alten Stils und Biergärten, an denen die Zeit vorübergegangen ist.

Der einsame Müßig-Gang in die Kneipe (bei dem oft Gedichte abfallen) entspricht seiner Art, gegen den Lauf der Dinge zu protestieren. Zugleich ist er eine Wiederholung prägender Kindheitserlebnisse. An den Biertisch, zu »Dirnen und Kellnerinnen«, flüchtet das bucklige Männlein sich wie unter die Rockschöße seiner geliebten Mutter — eine sanfte, romantische Revolte, über deren letztendliche Hilflosigkeit er sich im klaren ist. »Ich bin das Weiche, das Weichende«, schreibt er einmal, und in einem frühen Brief an seine Frau Leni gesteht er, »ein so frauenverliebter Mensch« zu sein, »daß ich mich von Kindheit an nur im Zusammensein mit Mädchen wohlfühlte. Das Männlich-Starre, Kriegerische, Fatzken-Korrekte ist ja das feindliche Prinzip zu mir.«

Die Briefe aus Berlin sind ein einziges Aufbegehren gegen Bürokratentum und Kriegstreiberei. Ein Mann, der die Frauen ebenso liebte, wie er »männliche« Tugenden verabscheute, erschreibt sich darin immer wieder neu ein widerständiges Selbstverständnis. Das macht die von Völker herausgegebene Auswahl zu mehr als bloß einem Ergänzungsband der bei Zweitausendeins erschienenen Werkausgabe. Die Briefe sind, ebenso wie die Gedichte, ein Stück anschauliche Autobiographie, Lebensmitschrift, Rechenschaftsbericht und Wirklichkeitsbewältigung in einem. Briefeschreibend taucht Herrmann-Neiße in seine liebsten Stimmungen ein, erinnert sich an Kleinstadt-Idyllen, die so nie bestanden haben, träumt laut vor sich hin, spaziert auf gedanklichen Promenaden, kehrt schreibend heim zum Mutterdialekt, in dem er sich selbst Trost zuspricht — und gibt die Wirklichkeit trotzdem nicht preis. Sein Schreiben ist kynisch, weil es, vom konkreten Eindruck ausgehend, am Ende immer wieder auf die Sinneswahrnehmung zurückkommt: die Stadtszene, den im Urlaub genossenen Kaffee, die Kneipe, wo »das Pilsner mir wohl einging« ebenso wie den verhaßten Soldatenstiefel. Es ist, als könne es nicht abstrakt spechen, nur von Dingen erzählen, die es auch gekostet, gleichsam in den Mund genommen hat. Darin liegt auch sein kindlicher, antiautoritärer Humor. Ein Schlimmes Lied endet mit den Worten: »Mein Ideal ist Suff und Puff,/sind Bildchens wüst und nackicht,/und gegen Reiche feste druff/ und gegen Kronen zackicht.«

1933 ist es mit den Kneipen- und Puff-Idyllen zu Ende. Max Herrmann-Neiße flieht sofort in die Schweiz, dann, nachdem sich die Einwanderungsbehörden überraschend schnell für seine finanziellen Verhältnisse interessiert hatten, weiter nach England. Der letzte Teil der Briefe wird in London geschrieben, wo er zusammen mit seiner Frau Leni und dem Juwelier Alphonse Sondheim eine seltsame Menage à trois führt. Er sieht die Marx Brothers (»Na, ich lachte Tränen«), französische Filme und den schwarzen Show-Jazzer Cab Calloway. Im Vergleich mit anderen Emigranten hat er es noch gut getroffen, wird aber nicht warm mit der Stadt — vielleicht, »weil sie keine Doppelfenster und weder richtige Öfen noch Zentralheizung kennt. Hier wäre ein jeanpaulisches Extrablättchen über Poesie und Unzulänglichkeit der Kamine fällig.«

Vor allem aber kann er den puritanischen Engländern die Unsitte nicht verzeihen, nachts um 11 die Pubs zu schließen. In der Beichte eines Erledigten von 1938, drei Jahre vor seinem Tod, heißt es prophetisch — und irgendwie immer noch neugierig: »Ein Ausländer, Nachtschwärmer, gewohnt bis zum Morgen von Bar zu Bar zu gehen, kommt nach London und stirbt. Daraufhin spukt er als ‘ghost‚, ständig auf der Suche nach nächtlichen Vergnügungsstätten...« Thomas Groß

Klaus Völker (Hg.): Max Hermann-Neiße · Künstler, Kneipen, Kabaretts — Schlesien, Berlin, im Exil. Edition Hentrich, Berlin 1991, 252 Seiten, 38 Mark.