■ Rose Ausländer
: Folg mir nicht nach, mein Bruder

(nach Itzik Manger. Aus dem Jiddischen)

Ich bin der Weg ins Leere,

das blonde Sonnensinken,

die braune Hirtenflöte,

das müde Abendwinken.

Folg mir nicht nach, mein Bruder —

mein Gehen ist Vergehn!

Es wird dein junger Glaube

an meinem Weh verwehn!

Ein Dolch ist meine Schönheit,

der tief sich gräbt ins Herz.

Zwei blaue Lippen über

dem Kruge Wein: mein Schmerz.

Mein Sehnen: ein Zigeuner

in windgepeitschter Steppe.

Eine tote, bleiche Mutter

auf dunkler Abendtreppe.

Folg mir nicht nach, mein Bruder,

mein Gehen ist Vergehn!

Es wird dein junger Glaube

an meinem Weh verwehn!

Meine Gier: eine nackte Nonne,

vor dem Altar gebeugt,

die ihre heißen Brüste

dem blonden Narren neigt.

Meine Luft: ein Regenbogen,

der an der Sonne reift

und in der Hand verflüchtet,

die gierig nach ihm greift.

Mein Haß: ein wilder Reiter,

in seiner Hand ein Strick,

doch statt den Feind erwürgt er

im Wahn sein eignes Glück.

Folg mir nicht nach, mein Bruder —

mein Gehen ist Vergehn!

Es wird dein junger Glaube

an meinem Weh verwehn.

(1985)

aus: „Fäden ins Nichts gespannt. Deutschsprachige Dichtung aus der Bukowina“, Insel Bücherei Nr.1097, 155 Seiten, schön gebunden, 16DM