Gerechtigkeit der Unterschiede

Neue Texte des Philosophen Jacques Derrida  ■ Von Hans-Werner Zerrahn

Die „Dekonstruktion“ gilt in Deutschland als bloße „Literarisierung“ der Philosophie, als ästhetisches Luxusprodukt. Und man braucht meist auch den „Luxus“ guter französischer und englischer Sprachkenntnisse, will man sich ein eigenes Urteil über den Gegenstand allgemeinen akademischen Naserümpfens bilden. Denn schon die Übersetzungspolitik deutscher Verlage gibt uns nur stückweise Einblick und gewährt ein klares Urteil höchstens dem Jüngsten Gericht.

Eine Ausnahme von der Regel, die ja in der Wiederauflage von über zwanzig Jahre alten Texten Derridas besteht, hat im Dezember 1991 der Suhrkamp-Verlag gemacht. Die beiden Vorträge von 1989/90, unter dem Titel Gesetzeskraft erschienen, machen es dem Leser allerdings auch vergleichsweise leicht. Sie argumentieren äußerst thesenhaft, sind geradezu Erläuterungen des Vorgehens der Dekonstruktion. Vor allem aber widersprechen sie jenen, die Derridas Denken mit ästhetischer Spielerei und verbindlichen Sophismen identifizieren.

Gehalten wurden die Vorträge während eines Kolloqiums zum ThemaDekonstruktion und die Möglichkeit der Gerechtigkeit an der jüdischen Cardozo Law School of Yeshiva University, New York, sowie anläßlich eines Kolloquiums von Saul Friedländer zu Nazismus und Endlösung: Erkundung der Grenzen des Darstellbaren in Los Angeles. Beide Anlässe verdeutlichen, wie ernst andernorts die Arbeiten der Dekonstruktivisten in der politischen und historischen Dikussion genommen werden. Man stelle sich vor, daß Derrida hier zum deutschen „Historikerstreit“ — den er im zweiten Vortrag mehrfach erwähnt — befragt worden wäre; die europäischen Grenzen bedürfen eben auch auf geistigem Gebiet noch der Öffnung.

Die scheinbar ungewöhnliche Frage, was denn die Dekonstruktion mit dem ethisch-juridischen Thema von Gerechtigkeit und Recht zu tun habe, zielt für Derrida tatsächlich auf eines seiner eigensten Anliegen. Der Ausgang seines Denkens liegt — wovon man sich schon als Leser der 1969 erschienenen Grammatologie überzeugen konnte — in einer Befragung jener logozentrischen Zwangshandlungen, die als Gesetze und Grenzen die Normativität des abendländischen Denkens beherrschen. Nicht zuletzt der Radikalismus seiner Versuche, eine Außenperspektive in die Sinnbildungen der Philosophie einzuschreiben, ihre vorgebliche Verfahrensrationalität als eine Form europäisch-männlicher Ethno- Logik sichtbar zu machen, hat bei vielen Lesern einen narzißtischen Widerstand provoziert.

Zudem ist Derrida immer ein vertrackter und beunruhigender Leser. Wie er auch in diesen Texten einmal mehr betont, geht es ihm um ein Denken des Gesetzes, das selbst nicht normativ verfährt und die heimlichen Gewaltakte der Konsensbildungen aufspürt. Sein Verfahren ist dabei dem der Psychoanalyse ähnlich, denn wie sie erfordert es genaueste Aufmerksamkeit für die Verdrängungsleistungen der Vernunft, für ihre Vesuche, sich in Systembildungen zu verschanzen. Auch er folgt der Annahme, daß nicht das Subjekt, sondern die Sprache spricht, und seine „Lektüren“ folgen ihren subversiven Tricks und Ausrutschern. Wie die Analyse bleibt daher die Dekonstruktion an die Äußerungen des Analysierten geknüpft: Ihr Verfahren ist singulär, hebt immer wieder neu an.

Nun sieht Derrida genau in dieser steten Suche nach den Brüchen und nach dem Unbewußten rationaler Wertsetzungen ein Gedächtnis der Differenzen und des Besonderen am Werk. Dieses Gedächtnis zeugt von einer bis ins Äußerste getriebenen Gerechtigkeitsforderung der Philosophie: „Man muß der Gerechtigkeit gegenüber gerecht sein; es muß ihr zunächst in dem Sinne Gerechtigkeit widerfahren, daß man auf sie hört, sie liest, sie deutet, daß man versucht zu verstehen, woher sie kommt und was sie von uns will, dessen gewahr, daß sie in besonderen Sprachen, Wendungen, Ausdrücken uns überkommen (dike, jus, justitia, justice, Gerechtigkeit).“ Gerechtigkeit ist also für Derrida eine Sache der Unterschiede, des Unterscheidungsvermögens und der Vielfalt. Sie ist mit der pluralen Logik von Sprachhandlungen verbunden.

Das Recht dagegen bedient sich zwar auch der Sprachhandlung, aber es ist schon seiner Konstruktion nach nicht gerecht. Es wird erst durch den vereinheitlichenden Akt einer „juridisch-administrativen Sprache“ ermöglicht. Und es autorisiert sich in jedem Rechtspruch gewalthaft selbst: Jeder Rechtspruch ist sowohl Deutung wie Setzung der Norm; er folgt einer Regel und enthält gleichzeitig eine bloße Entscheidung zur Eindeutigkeit. Wenn Derrida die Rationalität des Rechts als eine „legitime Fiktion“ bezeichnet, verstößt er vielleicht nicht einmal gegen gängiges juristisches Denken. Doch interessiert ihn weniger die verfahrenskonforme Fiktion, als der heimliche Gewaltakt der Sprache, die „grund- lose Gewalt(tat)“ im Recht selbst.

Hier nähert sich Derrida einerseits den Überlegungen Walter Benjamins zum Verhältnis von Recht und Mythos (Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt wird in Derridas zweitem Vortrag ausführlich interpretiert); andererseits aber berührt sich sein Problem mit dem großen Thema von Rechtsetzung und politischer Souveränität mit dem faschistischen Juristen Carl Schmitt. Doch hatte schon Benjamin Carl Schmitt auf linksradikale Weise umzuinterpretieren versucht, so versucht nun Derrida das Thema der politischen Souveränität selbst zu unterlaufen. Denn dort, wo Schmitt aus dem Entscheidungskern jeglichen Rechtes eine Lehre vom Fundament diktatorischer Herrschaft ableiten wollte, zeigt für Derrida das heimliche Gewaltmoment im Recht auf die Unbegründbarkeit von Herrschaft. Denn wenn jeder Rechtspruch trotz aller Verfahrenslogik auch ein bißchen verfahren, nämlich verrückt ist, dann enthält er eine Unberechenbarkeit und eine Offenheit, der auch keine Souveränität entkommt. Derrida spürt also ein gleichsam anarchistisches Motiv auf.

Gleichsam widerwillig zeugt so das Recht davon, daß Gerechtigkeit immer aussteht, aber als Un-Sinn auch schon an der Wurzel des Rechts nagt. Die Gerechtigkeit ist ein Übermäßiges, das sich nie und nimmer im bloßen Recht erschöpft.

Zweifellos stellt das Gewaltmoment im Recht eine Beziehung zur Politik her. Aber man muß sich für Derrida von der Illusion trennen, daß Gewalt Herrschaft begründen könne. Sie bezeichnet die Notwendigkeit und die Distanz der Gerechtigkeit gleichzeitig: „Die Gerechtigkeit ist der Zukunft geweiht, es gibt Gerechtigkeit nur dann, wenn sich etwas ereignen kann, was als Ereignis die Berechnungen, die Programme, die Vorwegnahmen usw. übersteigt.“ Derrida steuert also durch ein ähnliches Problem hindurch auf einen ganz anderen Schluß zu als Carl Schmitt (und auch noch als Benjamin): Er will die Rechtlichkeit nicht kippen oder auflösen, trennt sie nicht von der Idee der Gerechtigkeit. Er will — und das mit Blick auf den Jetztstand westlicher Geschichtserfahrung — die Notwendigkeit ihrer Offenheit für Prozessualisierung erweisen. Dabei braucht auch die aufgeklärte westliche Ethik eine Erinnerung daran, daß die Gerechtigkeit aus der Sphäre der Politik stammt, und nicht aus jener ewiger Werte. Hier bezeichnet Derrida ein Spannungsfeld, dem sich sein „dekonstruktives“ Denken verwandt fühlt. Was ist dann aber die politische Bedeutung der Dekonstruktion? Laut Derrida: „Veränderung im Sinne einer maximalen Intensivierung der Verwandlungen, die gerade geschehen.“ Veränderung, so muß man dann aber hinzufügen, die als Gedächtnis der Differenz der Grechtigkeit einen Ort gibt. — Wem gingen da nicht (auch) die deutschen Verhältnisse durch den Kopf.

Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mythische Grund der Autorität“ , Suhrkamp-Taschenbuch, 125 Seiten, 10 DM.