Blicklinien

■ Filme von Ingo Kratisch und Jutta Sartori im Arsenal

Mitten im deutschen Herbst, im verregneten Klima der Desillusionierung und Paranoia am Ende der siebziger Jahre, machen Ingo Kratisch und Jutta Sartori einen Film mit dem Titel Henry Angst. Der Protagonist (Titelheld zu sagen, verbietet sich in diesem Fall) fährt in der ersten Einstellung, in einem Computertomographen liegend, aus der Horizontale direkt auf uns zu. Das Bild erinnert ein bißchen an Kubriks Clockwork Orange und 2001. Es führt den Hauptdarsteller (Klaus Hoffmann, Signifikant für neue deutsche Innerlichkeit) als Außerirdischen, bloß zu uns Geschickten ein, der sich von nun an sprachlos unser Treiben ansehen und von uns unbeachtete Gefilde erschließen wird.

Das Ikon des traurigen jungen Mannes ist nicht neu — Jesus und der Heilige Sebastian sind nur zwei in der langen Ahnenreihe — aber es hatte in den Siebzigern Konjunktur: Im selben Jahr wie der Film erschien Jochen Schimmangs Der schöne Vogel Phönix — Erinnerungen eines Dreißigjährigen, der Bildungsroman der Generation, die die Studentenbewegung als Teenager erlebt hatte, dann durch K-Gruppen, Beziehungskrisen und WG-Terror odyssiert war und sich schließlich vor einem Scherbenhaufen sah, den keine Gruppe und keine Aktion mehr kitten konnte.

In dieser Situation taucht das Reisemotiv im Neuen Deutschen Film auf. Wo sich die alten Bilder aus gutem Grund verbieten, wird eine neue Topographie gesucht: Risse im Gebälk, Industrielandschaften, Baugruben und -krater, riesige Gascontainer, beschmierte Kanalmauern. »Zwischen zwei Kriegen« steht auf einer.

Berliner Spaziergänger wissen Bescheid: So sieht es aus, wenn man mit der S-Bahn raus nach Wannsee fährt, das ist die Brücke am Zoo, das ist der Grieche, der früher vor dem Delphi war. Die Straßen, durch die einst Demonstrationen gezogen waren, sind leer: Man sieht eine Abwesenheit, die Sensation des neuen deutschen road movie ist, daß es nichts zu sehen gibt.

Dabei sind die frühen Filme des Autorenteams durchaus unpolitisch. Es geht um die Logik des Gefühls (so der Titel eines Films von 1982). Ein Paar geht auseinander, den traurigen jungen Mann drängt es in die Welt, in der er dann, statt der heimischen femme fragile auf medusenhäuptige Meeresgöttinen trifft (in Italien, wo man damals hinreiste, mit Gruß an Goethe). Die Dialoge sind dabei gewollt künstlich — natürlich wird Narratives oder gar Realismus abgelehnt —, müssen aber ein heutiges Publikum zum Lachen reizen. Sagt er: »Ich bin mir gegenüber verstört. Ich habe versucht, es aufzuschreiben.« Sagt sie: »Du hast dich die ganze Zeit hinter mir versteckt.« Es scheint fast, als sei der Abstand zwischen der Beziehungskultur der Siebziger und der der Neunziger größer als der zu weiter zurückliegenden Zeiten, den Zwanzigern zum Beispiel. Die Synchronisation der Glücksvorstellungen hat als Ziel ausgedient.

Weil es im deutschen Herbst wenig in der unmittelbaren Gegenwart zu geben schien, auf das man sich berufen konnte, schließen sich die Filme an andere Pole an: An das amerikanische road movie (Juke Box, Hotel- Leuchtreklamen, travelling shots), an den Blues der Schwarzen (Klaus Hoffmann und guess, I'm going to California/ guess, I'm always on the run), an Godard; an Aischylos, Ovid, Hölderlin und Kleist und außerdem an die alten Ägypter. Das literarische Standbein dessen, was eine Zeitlang Autorenfilm hieß, wird hier oft zum Bleifuß.

Konfrontiert werden die Filme von Kratisch/Sartori, die jeweils um 20 Uhr laufen, mit Werken von Antonioni, Rohmer, Griffith, Akerman und anderen. Über thematische Korrespondenzen gibt es einführende Bemerkungen von Berliner Filmwissenschaftlern. Die Reihe empfiehlt sich also grundsätzlich für Leute, die Lust haben, in der Filmgeschichte umherzureisen, und für solche, die an dem Klimawechsel zwischen den Siebzigern und heute interessiert sind. Mariam Niroumand

Vor den Bildern. Imaginär/Real. Retrospektive mit den Filmen von Kratisch/Sartori. Noch heute und morgen, jeweils um 20 Uhr im Arsenal, Welserstraße 25, Tiergarten, 2186848.