Menschliches, Allzumenschliches

■ »Die Menschen« vom Ensemble YoYoTa in der Theatermanufaktur

Otto ist glücklich. Überglücklich sogar, so »affentittengeil glücklich«, daß ihm das Glück wie radioaktive Strahlung aus jeder Pore quillt. Lange Minuten hält Otto uns mit seiner grenzenlosen Glückseligkeit in Atem, etwas angestrengt schreit und posaunt er sie heraus, als wäre da nur ein schmaler Grat zwischen Glück und Qual. Otto trägt Designerhemden, nennt einen Farbfernseher, einen Entsafter und ein Leopardenfellsofa sein eigen und ist alles in allem ein schrecklich privilegierter Mittelkläßler. Sein kurzgeschorenes Blondhaar scheint im Kampf gegen die fortschreitende Glatze den kürzeren zu ziehen und überm Hosenbund wölbt sich der Bauch des Wohlgenährten. Dieser nicht mehr ganz taufrische aber gutsituierte Knabe feiert heute Geburtstag — wer wäre da nicht glücklich.

Doch Glück hin, Glück her, vor allem Dingen ist Otto eins — stolzer Besitzer einer eigenen Wohnung. Und hierin unterscheidet er sich ganz entschieden von den übrigen Mitspielern des Stücks.

Die stürmen, noch bevor Ottos Glücksleier verstummt, hinter einem alten Holzverschlag hervor, ihrem einzigen Unterschlupf in dieser kalten Welt. Wir befinden uns irgendwo downtown in New York City. Sechs beklagenswerte Gestalten, homeless people, leiden neben ihrer Obdachlosigkeit an allen erdenklichen Stadien des Wahnsinns. Autismus, Schizophrenie, Debilität und Hysterie — als hätten die Klapsmühlen der Vereinigten Staaten ihre Pforten geöffnet, um den Insassen die rauhe Luft der Straße um die Nase wehen zu lassen. Ein Schizophrener führt Selbstgespräche und zitiert aus dem Verhaltenskodex, der ihm an einem langen Plastikschlauch aus der Jackentasche hängt. Ein romantisch-verklärtes Mädchen murmelt das Dr.-Ötker- Puddingprogramm vor sich her, während eine Magere ihre fehlenden Rundungen mit Lumpen aufpolstert. Eine autistische Punkerin hantiert mit einer Schere und verteidigt gelegentlich erbittert ihren Turnschuh.

Von Zeit zu Zeit durchkreuzt Otto mit ungebrochener Fröhlichkeit das bunte Treiben auf der Straße. Die Magere tituliert er mit »Hündchen« und will sie mit ein paar hingeworfenen Brosamen zum Hüpfen bringen. Als sein mit Sekt und Orangen vollgestopfter Einkaufswagen umkippt, stürzt sich der Mob wie ein Rudel hungriger Wölfe auf die Delikatessen. Otto tritt ungerührt beiseite, um die frohe Kunde von seinen alljährlich anläßlich seines Geburtstags verzehrten 3.000 Vitamineinheiten im Publikum zu verbreiten. In seiner dümmlichen Ignoranz bleibt Otto einsam, selbst die sechs Stück Geburtstagstorte stopft er am Schluß ohne Gesellschaft in seinen Wanst.

Ziellos und ohne Effekte wabert ein nicht identifizierbarer Handlungsfaden durch die verwirrenden Szenen. Ein Kaleidoskop exzentrischer Individuen und überzogener Charaktere, die keinen Wiedererkennungswert haben. Das liegt möglicherweise auch an der durchgängig mittelmäßigen schauspielerischen Leistung. Keiner der Charaktere vermag wirklich zu fesseln, die Lust am Verstehenwollen überhaupt erst zu wecken. Die Akteure spielen selbstgefällig vor sich hin, als wäre Auf-der-Bühne-Sein schon alles. Die Tanzszenen, die die depressive Tendenz der Inszenierung durchbrechen, die kraftvolle Seite der gescheiterten Existenzen zeigen, so etwas wie positive Utopie geben könnten, leiden an mangelnder Professionalität der Tänzer und an einer schlappen Choreographie.

Menschliches, allzu Menschliches gibt es zu sehen: die Einsamkeit der Individuen, die sich kurzfristig solidarisieren, als es zu regnen anfängt, gar ein gemeinsames Liedchen anstimmen, um sich im nächsten Moment um ausgekippte Apfelsinen zu prügeln. Der ignorante Charme der Bourgeosie in Form von Otto, der die Blume der hungernden Tulpenverkäuferin als wohlverdientes Geburtstagsgeschenk betrachtet. »Erst kommt das Fressen, und dann kommt die Moral« — ein Gesetz, das wohl so schnell nicht an Gültigkeit verliert, das man bei Brecht aber schon mal origineller inszeniert gesehen hat. Antje Braunschweig

Noch heute und morgen um 20.30 Uhr in der Theatermanufaktur. Danach vom 12.-22.3. im Tacheles (außer Di.), ebenfalls 20.30 Uhr