Freilebende Döner

■ »College of Hearts«-Premiere in der UFA-Fabrik: »Der Gestiefelte«, ein Rotlichtmärchen mit Klopfsauger

Drei Söhne hatte Mutter Müller, die Fitness-Center-Inhaberin: Fred, den knackig-dämlich Sportiven; Karl, den körperbehinderten Computer-Süchtigen — und Reiner, den mag keiner. Weil er ein liebenswerter, aber weltuntauglicher Trottel ist. Die diktatorische Mama wird eines Tages unter Mithilfe des dritten Sohns (Reiner) von einer Schwersthantel erschlagen. Vor Gericht sagt Reiners Verteidiger zwar noch sehr wahr: Jeder Muttermord ist Notwehr — aber es nutzt nicht, er wird verurteilt, auf ein Jahr. Wie's das College of Hearts-Weltbild will, verliebt er sich in seine faltenrocktragende Sozialarbeiterin, und — jetzt kommt's! — er erbt nach abgesessener Haft einen Klopfsauger. Der soll zum Trödler, beginnt aber märchenhafterweise zu sprechen und argumentiert sogleich schlagend: Wer einen Klopfsauger beim Trödler kauft, ist imstande und übernimmt den Teppichboden von seinem Vormieter! Stiefel verlangt der Sauger, damit er an Reiners Seite in die Welt hinaus und finstere, genaugenommen von Rotlicht bestrahlte Abenteuer bestehen kann — bis es ein Happy-End setzt, mächtige Feinde neutralisiert sind, Trottel und Sozialarbeiterin einander gefunden haben. Nach dem Ende werden alle drei, Faltenrock-Iris, Reiner und der Sauger, glücklich miteinander leben, bis der Maschinenschaden sie scheidet.

Der Gestiefelte ist, wie alle College-Stücke, ein triviales Schauermärchen voll tiefer Weisheiten, haarsträubender Dialoge und ohrwurmender Musik. Niemand außer College hat die Schamlosigkeit, ein Duett zu singen, dessen wesentlicher Inhalt aus diesen Zeilen hier besteht: Reiner, Reiner, spritz dir Heroiien! — Wohiien? — Immer rin in die Vene, immer rin in die Vene! Weitere Fragen, auf deren ernsthafte Antwort wir bei College keinesfalls hoffen dürfen: Wie fängt man so etwas an, wenn man jemandem sehr, sehr weh tun muß? (Dazu zweistimmig eine entsetzlich blödsinnige Echo-Gesangszeile »Mein lieber Reiner, mein lieber Reiner!«) Oder: Ach, warum können wir nicht wirklich in Frieden miteinander leben, in Eigenheimen mit Jägerzäunen? Und Weisheiten, auf die wir schon dringend gewartet haben: Sisal/ ist ideal / für feuchte Räume oder: Und weißt du eines Tages wirklich nicht mehr weiter / gibt es immer noch uns Sozialarbeiter! und, vollends hemmungslos: Verpfusch dir nicht dein Leben / du hast nur eins / deins / Reiner!

College of Hearts sind bei dieser Produktion: Thomas Pigor, der alle drei Brüder mit seinem fränkischen Charme, seinem schönen Gesang und seinen Rampensau-Qualitäten lebendig macht (und dazu noch eine wüste Prostituierte spielt, im Rotlichtteil des Stücks, im Puff-Imperium des Bordellkönigs Heinz König); die Komponistin und fabelhafte Musikerin Susanne Betancor, die sich in dieser Produktion, als Fitnessmutter und Sozialarbeiterin, rigoros freispielt und ihre tutenhafte Komik bis zur virtuosen Schmierenschauspielerei ausagiert; Kalle Mews in mehreren kleinen Rollen und als blöder Bordellkönig, eine begnadete Knallcharge — dazu ein guter Schlagzeuger, der beim Musizieren stets gütig-einfältig ins Publikum grient; die Tänzerin Daniele Drobny, hauptsächlich als Klopfsauger — ihr manchmal etwas forciert wirkendes Spiel ist nicht jedermanns Sache, paßt aber zur Rolle und hat seinen eigenen, beim Publikum gewaltig ankommenden Witz; schließlich Bettina Wauschke, kräftig-stämmig als unbotmäßige Verlobte gleich zweier Müller-Söhne und als Nutte Pamela; ihre schärfste Waffe ist der markerschütternde — was red' ich: der knochenzersplitternde Sirenenschrei, absolut tonrein in allen Lagen und mit gleichbleibend ulkigem Augenrollen losgelassen. (Dazu beherrscht sie aufs schönste den Fernsehtonfall warmherziger Heuchelei!)

Natürlich spielen und singen alle College-Leute wieder, was das Zeug hält. Die fliegenden Wechsel zwischen Rollen und Funktionen sind wie immer erstaunlich — mir kommt's so vor, als wäre die Truppe dramaturgisch noch besser geworden. An Instrumenten sind unter anderem Tuba und elektrische Schweine-Orgel dazugekommen — letztere, ein winziger Makel, in der Premiere leider hartnäckig zu laut. Die Geschichten, die Inhalte werden bei der Qualität, die die Truppe jetzt erreicht hat, immer unwichtiger (was nicht heißt, daß sie an Qualität verlieren). Der Stil zählt. Und der wird immer schöner. Es gibt Gesänge in dieser neuen Produktion, bei deren Erarbeitung viel Schweiß geflossen sein muß (und die auf der Bühne trotzdem voller Leichtigkeit präsentiert werden): kühne Rhythmus- und Tempowechsel, haarig schwere Tonsprünge, zeitlich gegeneinander versetzte Gesangsstaffetten bis zur Fünfstimmigkeit — alles wieder mal hinreißend von Wolfgang Böhmer komponiert und von der Truppe mit begeisternder Lässigkeit gesungen, gespielt, gejammert, geknödelt, gejodelt.

Unter Christoph Swobodas perfekter Regie (in wundervoll abstoßenden Kostümen von Peter Richter) feuern die Pioniere des alternativ- blöden Musiktheaters Gags, Pointen, Gimmicks ab, die keinerlei Grenzen von gutem Geschmack, »Niveau« oder Intelligenz mehr nötig haben. Wie bei College eine Festplatte aussieht, kann sich vielleicht noch jeder ausmalen. Was aber die schlimmste Kindesrenitenz für einen väterlichen Bordellkönig ist, wo die letzten freilebenden Döner im Brandenburgischen anzutreffen sind, warum es kein erfülltes Leben ohne Klopfsauger gibt, was dem bewegungsfaulen Computerfreak Grausiges droht, vor welche Probleme die Sauna-Ordnung einen Luden stellt, auf welche Weise monatelange Untersuchungshaft entschieden heiter stimmen kann — all das wird man nie erfahren, wenn man sich nicht dem neuen und bisher schönsten Geniestreich der Geschmacklosen vom College of Hearts aussetzt. Klaus Nothnagel

College of Hearts noch bis zum 12. April, täglich, außer Mo. und Di., um 20.30 Uhr in der UFA-Fabrik.