AUS POLNISCHER SICHT
: Bis uns der Tod wiedervereinigt

■ Tadeusz Rozewicz und Günter Grass im PEN-Zentrum

Henryk Bereska spricht genauso gut Polnisch wie Deutsch, seine Übersetzungen der Gedichte von Tadeusz Rozewicz lassen das Original nicht verstummen. In der lauten Lesung des Autors und Übersetzers klingen sie wie auf deutsch gedichtet.

Rozewicz ist zwar anwesend, aber krank. Der kleine Mann, der nie einen besonders guten politischen Riecher besaß, fühlt sich angegriffen in seinem Heimatland. Nach seinen Anfängen als Avantgardist hat er sich dem massiven Druck der kommunistischen Propaganda in den fünfziger Jahren gebeugt. Man kann ihm keine bösen Taten vorwerfen, man kann ihm höchstens vorhalten, daß er — mit seiner ungeheuren Autorität unter den Intellektuellen — ein deutliches »Nein« gegen das Regime nicht hat ausschreien können. Heute ist er enttäuscht und bitter, seine Poesie profitiert von dieser menschlichen Tragödie wie ein Vampir: wahrscheinlich das Beste, was in den letzten Jahren gedichtet wurde, kommt aus dieser kleinen Hand des gebrochenen Mannes.

Seine neuen Gedichte thematisieren den Tod, das Ausscheiden, die Enttäuschung. Angefangen bei kleinsten, Haiku-ähnlichen Formen, bis hin zu einer »Elegie« für Deserteure — nicht nur die der beiden Weltkriege und auch nicht nur die, die sich weigern, mit dem Gewehr zu kämpfen, sind gemeint, es geht auch um ein Stück Autobiographie — zeigt Rozewicz am Ende der Lesung doch noch auf polnisch eine Intensität des Erlebens und Denkens, die dem tibetanischen Buch des Todes (Bar-do t'os grol oz'en-mo: Befreiung von dem Bar-do durch das Hören) und Blaise Pascal ebenbürtig ist: Ein Leben ohne Gott ist möglich / Ein Leben ohne Gott ist unmöglich«.

Große Literatur braucht keine Angst vor der großen Literatur zu haben. Als zweiter las am Donnerstag im PEN-Zentrum Berlin Günter Grass — aus seiner neuen Erzählung Unkenrufe. Eine Geschichte der »Deutsch- Polnischen Friedhofsgesellschaft«, die in Gdansk (wo sonst?) handelt. Grass erzählt von einer Initiative, den Deutschen eine Heimkehr nach Gdansk zu ermöglichen — als Tote. Er lädt die bravourös geschriebene Anekdote mit Sympathie für die Beteiligten auf, beobachtet jedoch sehr genau die komischen und gefährlichen Aspekte dieser Groteske. Durch ständiges Wechseln des Blickpunktes — die polnischen Deutschen und die deutschen Polen, die Polen und die Deutschen sehen das Ereignis der ersten Begräbnisse auf dem Versöhnungsfriedhof — erreicht er genau das, was von großer Literatur erwartet wird: Der Leser (Hörer) verläßt die Fabel und reflektiert über den Versöhnungsfriedhof Europa, den wir gemeinsam für uns vorbereiten. Bis uns der Tod wiedervereinigt. Piotr Olszowka