Auf dem Flügel in die Vollen

■ Tango-Retrospektive in der Galerie-Kneipe Bellevue

Musik kommt aus einer Welt voller Widersprüche. Gegensätzliches scheint sich miteinander zu verbinden. Grob und zärtlich, sentimental und brutal verschmelzen Schmerz und Lust zum Tango.

Man sagt, daß der Tango am Anfang des Jahrhunderts auf das Bandoneon gewartet hat und erst durch das Auftauchen dieses Instruments beseelt wurde. Wie bei der menschlichen Stimme wird bei dieser Handorgel der Luftstrom durch eine Stimmritze unterbrochen, um den Ton zu erzeugen. Dadurch entsteht dieser unvergleichlich klagend-singende Ton.

Wenn das Bandoneon die Seele des Tangos ist, so ist das Klavier sein Körper. Diesem Körper gibt der Pianist des Abends die Form. Er geht auf dem Flügel in die Vollen, ist so expressiv wie der Tango, selbst noch an den sanften, leisen Stellen, und man spürt, daß er erlebt, was er spielt: Musik von Astor Piazzolla, dem Meister des Tango.

Der Abend im Bellevue in Moabit steht unter dem Motto: »Retrospektiven der letzten zwanzig Jahre des argentinischen Tango«. Klar, daß die beiden Musiker, Paul Raackow (Bandoneon) und Markus Waibel (Piano), Kompositionen von Astor Piazzolla in den Mittelpunkt ihres Programms gestellt haben. Ohne ihn wäre die Entwicklung des »Neuen Tango« zu einer der heißesten Avantgarde-Musikrichtungen unseres Jahrhunderts nicht denkbar gewesen.

Für Markus Waibel gehört der »Neue Tango«, gleichberechtigt neben der »Neuen Musik« und dem »Neuen Jazz«, zu den drei Musikrichtungen, in denen Wesentliches passiert. Der spezifische Reiz, den die beiden dem Tango abgewinnen, liegt im Akzeptieren des Unabänderlichen. In der Freiheit, die innerhalb der starren, vorgegebenen Schablonen möglich ist: Der Freiheit der Interpretation. Fast alle Stücke mußten von ihnen für Klavier und Bandoneon neu bearbeitet werden, da sie ursprünglich für größere Orchester geschrieben worden sind. Besonders bei den Piazzolla-Klassikern ist das hervorragend gelungen.

Eine Überraschung des Abends sind (in Europa) nicht bekannte Kompositionen von Raul Garello, einem der »jungen« Komponisten Buenos Aires' aus der Generation Mossalinis. Seine Kompositionen haben einen eigenwilligen, erzählenden Stil. Die Hymno de Ernesto Sábato, von Garello in Zusammenarbeit mit Leopoldo Federico und Roberto Grela, dem Bandoneonspieler aus dem Film Sur, komponiert, ist einem der Vorkämpfer für die Aufklärung der Machenschaften der Militärdiktatur gewidmet. Das zeigt, daß der Neue Tango sich wieder stärker am Alltag Argentiniens orientiert. Auf die Frage, wie sie an die heiß begehrten Noten herangekommen sind, hüllt sich der Klaus-Gutjahr-Schüler in Schweigen.

Wahrscheinlich ist das Bandoneon das einzige Instrument, auf dem man mit Anfang dreißig noch als Nachwuchstalent gilt. Paul spielt es gut, in den besten Momenten brillant. Diese Momente sind es, für die es sich wirklich lohnt, den beiden jungen Musikern zuzuhören und sich auf ihre Musik einzulassen. Paul denkt die Töne, fühlt sie. Sein Körper, sein Gesicht, die ganze Haltung sind für einen Augenblick Musik. Es sind Momente, in denen der Abend zu einem Liederabend wird und das Bandoneon zu singen beginnt. Ralf Berger

Nächste Vorstellungen: heute und morgen, jeweils um 20.30 Uhr in der Galerie-Kneipe Bellevue, Flensburger Straße 13.