Gizeh statt Posemuckel

■ Pyramidenpläne für den Potsdamer Platz

Die einen wollen hoch hinaus, die anderen bloß die Berliner Traufhöhe auf fünfunddreißig Meter anheben. Die einen reden von zukunftsweisenden Visionen, die anderen von vernünftigen Lösungen. Sie alle, die mal hier ein kleines Hausklötzchen verschieben, mal dort ein Modellbäumchen plazieren, wollen der Ödnis rund um den Potsdamer Platz ihre eigene architektonische Handschrift eingravieren. Wer baut, denkt — zumindest in diesen Breitengraden und insbesondere, wenn es sich um Repräsentationsbauten handelt — in der Regel in Jahrzehnten und Jahrhunderten, träumt nicht nur vom aktuellen Erfolg, sondern auch vom posthumen Ruhm. Gerade der Potsdamer Platz ist jedoch dazu angetan, diese Illusion Lügen zu strafen. Keines der dortigen Gebäude hat seinen hundertsten Geburtstag bisher erlebt: Was der Zweite Weltkrieg nicht schaffte, erledigten der Juni-Aufstand beziehungsweise die konzentrierte Spurenbeseitigung der verantwortlichen Politiker. Übrig blieb das große Nichts, und das soll nun schnell, flächendeckend und möglichst für alle Ewigkeit, bebaut werden.

Der Vorschlag der Graphik-Designerin Susanne Fleck, am Platz eine zweiundfünfzig Meter hohe Pyramide zu errichten, für den ihr am vergangenen Mittwoch der Karl-Hofer- Preis 1991 der HdK verliehen wurde, wirkt wie eine Ironisierung der allgemeinen Betriebsamkeit. Nicht nur unterläuft diese für Berlin eher untypische Form die angestrengten Bemühungen der Planer, einen adäquaten Übergang zwischen barockem Ostzentrum und modernem Westzentrum zu finden; das geplante Baumaterial stellt zudem genau die Beständigkeit in Frage, die durch die Pyramide als Bauwerk symbolisiert wird. Denn das Objekt, das Susanne Fleck entworfen hat, soll ausschließlich aus Baugerüsten bestehen, die am Rande des Lenné-Dreiecks für einen begrenzten (Zwischen-)Zeitraum eine Pyramide bilden sollen, um anschließend wieder, über die Stadt verteilt, ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt zu werden.

Das Uneigentliche kehrt sich hier zum Eigentlichen, die Hilfskonstruktion »Baugerüst« wird zum Bauwerk. In dieser Transformation der reinen Funktion zum Kunstwerk ist bereits die Umkehrung des Prozesses mitgedacht. Dieses Konzept von recyclbarer (Bau-)Kunst ist vergleichsweise beruhigend, erlaubt und ermutigt es doch, Veränderungen ganz anders als all die Stein- und Betongebilde, für die meist nur die Entweder-oder-Option gilt. Im Gegensatz zu den Gebäuden, die ihr folgen sollen (an diesem Standort die Verwaltungsbauten des Hertie-Konzerns) wird diese Pyramide nicht bis zum nächsten Krieg, Volksaufstand, Regimewechsel, Erdbeben, etc. erhalten bleiben. Wenn Franz Hessels Beobachtung aus den zwanziger Jahren, daß Berlin »immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu werden ist«, nicht an Gültigkeit verloren hat — und einiges spricht für diese Annahme — dann wäre die temporäre Gerüstpyramide ein angemessenes Sinnbild für diese Stadt.

Trotz ihrer Größe würde die Pyramide dank der transparenten Struktur die (Durch-)Sicht nicht blockieren. Dieses »Grabmal« aus Baugerüsten verdrängt und versiegelt die Spuren der Vergangenheit und die Leere der Gegenwart nicht, sondern ergänzt sie. Bereits der Name des Projektes Das monumentale Provisorium, weist auf jene (Selbst-)Ironie hin, die momentan in unserer Stadt so selten geworden ist. Der Titel bezeichnet nicht nur das Verhältnis von Baugerüst und Pyramide, sondern läßt sich zudem als Metapher für den derzeitigen Berliner Planungsprozeß lesen.

Auch der Standort scheint nicht ohne Augenzwinkern gewählt worden zu sein, liegt er doch nur wenige Meter entfernt von der Position des einstigen »Abscheugerüstes«, das erschütterten Berlin-Besuchern einen Blick auf den Todesstreifen gewährte. Das Pyramidengerüst, das ebenfalls eine Aussichtsplattform erhalten soll, würde den Horizont der Sehenden — und vielleicht auch der Planenden — erheblich erweitern. An die Stelle des verstohlenen Schielens nach »drüben« träte so der Überblick über die beiden Stadtzentren, die in mehrfacher Hinsicht noch immer weit davon entfernt sind, eins geworden zu sein. Wenn sich Investoren finden, die bereit sind, die Pyramide zu finanzieren, könnten sich hier alle Posemuckler und Metropolitaner versammeln und einen gemeinsamen Blick auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieser Stadt wagen — vorübergehend, versteht sich. Sonja Schock