Yuppies ade: Die Smuddlies kommen!

In Kalifornien tobt die Spielwut: Wie eine Seuche haben sich die Office Games ausgebreitet und produzieren massenhaft Smuddlies (Simple minded underdevelopped dumb little idiots)  ■ Von Martin Born

Die deutlichsten Symptome der jüngsten Epidemie zeigten sich in Venise, dem Trendsetter-Strand von Los Angeles. Die Hanteln an der Muscle Beach, die in den Jahren zuvor in einer öffentlich bewunderten Show noch Tausende braungebrannter Körper gestählt hatten, rosteten still vor sich hin. Die Basketballkörbe hingen schief und blickten traurig auf den leeren Platz. Die Racketballnetze wurden von Ratten angeknabbert, und die Brecher im Stillen Ozean warteten vergeblich auf Surfer, die sie hätten durchschütteln können. Auf dem Asphaltsträßchen, das dem Meer entlang führt, kamen sich mangels Opfern und Tätern keine Biker, Skater und Jogger mehr in die Quere. Irgendetwas, so fanden Soziologen heraus, mußte passiert sein, doch was?

War Panik ausgebrochen, weil der Strandbiologie Prof. Dr. James Beachman in einer nicht ganz unter Verschluß gehaltenen Studie nachgewiesen hatte, daß Strandflöhe bei ungeschütztem Sex Aids übertragen können? Oder flohen die Sonnenanbeter Südkaliforniens vor dem Ozonloch, das sich bedrohlich der südwestlichsten Ecke der USA näherte? Selbst Leute, die miterlebt hatten, wie sich der Strand entvölkerte und deren Augen verrieten, daß sie mehr wußten, sagten nichts. Die Omertà, die Schweigepflicht der Mafia, schien oberstes Gebot zu sein.

Gleichzeitig war in Los Angeles ein anderes Phänomen beobachtet worden, das die Soziologen nicht deuten konnten und in einer ersten vorläufigen Annäherung „Neue Fleißigkeit“ nannten und für das Psychologen flugs den Begriff „paranoide Bürophilie“ prägten: In den Büros von Handelsgesellschaften und Verwaltungen, Versicherungen und Banken wurde gearbeitet wie noch nie. Die durchschnittlich abgesessene Arbeitszeit pro Woche erhöhte sich gemäß einer Gallup-Umfrage innert Jahresfrist von 36,3 auf 78,8 Stunden. Viele Stellenbewerber verzichteten auf einen Lohn, es gab gar solche, die für einen Stuhl am Arbeitsplatz bezahlten. „Work ist beautiful“, hieß der Slogan, doch es war für unbeeinflußte Beobachter nicht ganz unübersehbar, daß er mit einem leichten Augenzwinkern in die Welt geschrien wurde.

Erstaunlich war auch der Expertenbericht, der vom Institut für Arbeitsforschung in Pasadena veröffentlich wurde und eine Verminderung der Produktivität nachwies. Der Rückgang, so wurde präzisiert, sei in Südkalifornien und besonders im Segment Büro gar signifikant. Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, blieb dem FBI nichts anderes übrig, als seine wägsten Beamten auszuschicken. Die stürzten sich, angesichts der schweren Aufgabe, trotz Sommerhitze in ihre Mäntel, schlugen die Kragen hoch, setzten sich hinter ihre Computer und begannen eins und eins und eins zusammenzuzählen. Keine Leute mehr am Strand plus Ansturm auf die Büros plus gesunkene Produktivität gleich: „Da muß irgend etwas faul sein.“ Also schwärmten sie aus, setzten Wanzen und Mini-Videokameras, schlichen sich an verdächtige Büros heran, schleusten sich als V-Männer ein.

Was sie fanden, war eine Epidemie, schlimmer noch: eine Seuche, deren Ausmaße größer waren als Aerobic, Jogging und Bungy Jumping zusammen. Sie stießen auf die Bewegung der Office Games und auf die Nachfolger der Yuppies und Milkies, die sogenannten Smuddlies (Simple minded underdevelopped dumb little idiots), die von den Philosophen auch die Neuen Ludophilen genannt wurden. In ihrem Rapport an den Präsidenten hielten sie die drei Grundsätze der Bürospiele, der sogenannten Office-Games, fest:

1. Office Games sind Spiele mit alltäglichen Büro-Utensilien wie Gummis, Kugelschreibern, Büroklammern, Papierknäueln, Papierkörben, Leim, Scheren, Plüschtieren.

2. Gröbstes Vergehen bei den Office-Games ist das Ertapptwerden durch einen Vorgesetzten, das mit bis zu 543 Strafpunkten sanktioniert wird. Wird ein Smuddlie trotzdem ertappt, so ist es seine heilige Pflicht, seinen Chef selbst zum Smuddlie zu bekehren und ihn — notfalls mit Gewalt — dazu zu bringen, die Office- Games auf seiner Stufe einzuführen.

3. Die Omertà, die Schweigepflicht nach außen, ist oberstes Gebot.

Während bereits erwähnte Soziologen in einer ersten vorläufigen Annäherung an das vom FBI aufgedeckte Phänomen von einer „Reaktion auf unsere unpersönliche Computerwelt mit den trockenblutigen Videospielen“ sprachen, deckten die V-Männer eine weitverzweigte Organisation auf, die sie als mafiaähnlich bezeichneten.

Anfänglich waren Office-Game- Organiationen wie Pilze aus dem Boden geschossen. Es gab die WOGA (World Office Games Organisation) der Banken, die IOGF (International Office Game Federation) der Versicherungen, den SCOGWC (Southern Californian Office Games World Council) der Computerbranche und als ersten kommerziellen Verband mit eigener Radiostation die WDOGA (Walt Disney Office Games Administration). Jeder dieser Verbände führte eigene Weltmeisterschaften durch, und in jedem Verband gab es so viele Disziplinen, daß sich schließlich 16,2 Prozent der Einwohner Südkaliforniens als Weltmeister bezeichnen konnten.

Das war einerseits gut für das Selbstwertgefühl der Smuddlies, andererseits drückte die Inflation auf den Wert des einzelnen Titels. Weil es zudem in diversen Verbänden schwer zu kontrollierende Auswüchse gab (als besonders gravierend wurde die 200-Punkte-Regel für ein ausgestochenes Auge beim Scherenwerfen des IOGF bewertet), drängte es sich auf, daß sich die General Managers der Weltverbände an einen Tisch setzten. So wurde am 3.Oktober 1992 der neue Einheits- Weltverband gegründet, der auf den schlichten Namen OGI (Office Games International) hörte.

IOC-Chef Samaranch als Ehren-Ludophiler

Die Suche nach einem gleichnamigen Vorsitzenden als Integrationsfigur wurde dadurch erleichtert, daß sich aus der Schweiz ein solcher für das schwere Amt, das er nie gesucht habe, zur Verfügung stellte, bevor er überhaupt angefragt wurde. Im Edikt von Malibu Beach wurden die verschiedenen Disziplinen mit verbindlichen Regeln definiert, das Programm wurde im Hinblick auf mögliche Demonstrationswettkämpfe im Rahmen der Coca-Cola-Weltspiele von 1996 in Atlanta rigoros gestrafft. Juan Antonio Samaranch wurde im Abwesenheitsverfahren zum Ehren- Ludophilen ernannt.

Den Zuschlag erhielten Baby Seal, Speed Chaining, Magic Basket, Call Ball und Office Golf; Sugar Katapult, das Spicken von Zuckerwürfeln mit dem Löffelkatapult in gegnerische Kaffeetassen, wurde auf Drängen der Weltgesundheitsorganisation WHO ebenso abgelehnt wie das problematische Scherenwerfen.

Baby Seal, eine Sparte, die zu den Pionieren zu zählen ist, setzte sich auch gegen den Widerstand des WWF durch. Baby Seal war in einer Spielwarenfirma entstanden und hatte danach einen rasenden Siegeszug bestiegen. Von den unzähligen Möglichkeiten, seinem oder seinen Büropartner(n) ein Plüschseehundbaby zuzuwerfen, setzten sich in Malibu zwei Formen durch: das linkshändige Zuwerfen und Fangen sowie das entfernt an Handball erinnernde Pealtyschießen auf offene Türen, wobei das zweite wegen der größeren Gefahr des Ertapptwerdens bei den Extremen unter den Smuddlies besonders beliebt wurde.

In Büros mit starker Chefüberwachung setzte sich das Speed Chaining als wichtigste Sportart durch. Speed Chaining ist der Begriff für das blitzschnelle Verketten von Büroklammern. Zwei Sparten wurden von OGI als WM-würdig taxiert: der Sprint über einen Fuß und der Marathon über 237 Fuß und 63/8 Inch.

Die Tatsache, daß die Aktienkurse der Büroklammerhersteller im Oktober sämtliche Grafiken sprengten, wertete Präsident George Bush als Zeichen für den lange herbeigesehnten Wirtschaftsaufschwung, sein Gegenkandidat Mario Cuomo versuchte sich die Stimmen der Smuddlies zu angeln, indem er in einer Art Coming out sich selber zum Marathon Speed Chaining bekannte und sich so selbst zum Verantwortlichen für den angeblichen Aufschwung machte. Er wurde am 3.November gewählt.

Als Reverenz an den HIV-infizierten Basketballhelden Magic Johnson blieb das Spiel Magic Basket im OGI-Programm, ein Spiel, das, wie die katholische Kirche euphorisch feststellte, ihrem Programm der Aids-Verhütung durch Keuschheit entgegenkam. Magic Basket könnte auch als Papierkorbball bezeichnet werden. Wer während der Arbeitszeit zwischen 05.00 und 21.00 am meisten Kugelschreiber in einen gegnerischen Papierkorb wirft und gleichzeitig seinen eigenen Papierkorb möglichst rein hält, gewinnt und darf sich während der kurzen Nacht „magic“ nennen.

Als spektakulärstes Spiel bezeichnen die führenden OGIologen das baseballähnliche Call Ball, das im Triumphzug auch die Chefetagen eroberte. Beim Call Ball wird einem telefonierenden Büropartner ein Gummi zugeworfen, den dieser mit dem Hörer zu treffen versucht. Trifft er, erhält er einen Punkt, schmettert er den Gummi an die gegenüberliegende Wand, zählt das als Home-run und ergibt vier Punkte. Trifft er nicht, punktet der Werfer, der sich für einen Fanggummi gar fünf Punkte notieren lassen kann.

Oberstes Gebot beim Call Ball ist, daß der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung vom Spiel nichts merken darf, was vom Schläger neben blitzschneller Reaktion auch Geschmeidigkeit im Handgelenk erfordert. Bereits Mitte Oktober gebrauchte die Bell-Telefongesellschaft die ersten speziellen Call-Ball- Hörer mit einer um 63 Prozent vergrößerten Trefferfläche (eine sogenannte Telefonpfanne) auf den Markt. Es entwickelte sich ein erbarmungsloser Kampf um den interessanten Markt, doch dann mußten sich die Telefongesellschaften zusammenschließen: Nur gemeinsam konnten sie verhindern, daß landesweit alle Telefonleitungen zusammenbrachen. Call Ball hatte aber auch wirtschaftsfeindliche Auswirkungen: Seit die Chefsekretärinnen von früh bis spät Gummis werfen mußten, sank ihre Produktivität. Andererseits scheiterte mehr als ein wichtiges Überseegeschäft, weil ein Executive Managing President in seiner Euphorie über einen Home- run den Geschäftspartner nicht mehr richtig verstand oder schlicht vergaß.

Die Krönung: Office Golf

Echte Smuddlies bezeichneten Call Ball wegen des Erfolges in den Chefbüros bald als pervertiert. Für sie ist Office Golf das größte. Beim Office Golf ersetzen Papierkörbe die Holes, als Schläger dienen Maßstäbe (Eisen 3 bis 8 und Holz), die Bälle sind zusammengeknüllte Dokumente. Je wertvoller diese Dokumente, desto tiefer fällt das Handicap. Höhepunkt eines jeden Office Golf Course ist das 18.Loch, das sich im Büro des obersten Chefs befinden muß. Wer dort unbemerkt seine zusammengeknüllte Kündigung einlocht, erhält ein Hole in one zugesprochen. Das Zertifikat gilt als wertvollste Auszeichnung im OGI-Zirkus. Wer damit weiterspielt, wird als Extremist gefeiert, und wenn er es gar noch einmal beim Chef einlocht, kann er als Autor eines „Super Hole in one“ den gesicherten Lebensabend antreten.

Bis jetzt ist das erst einem Athleten gelungen. Billy Naughty ist heute Millionär. Die Schweizer Uhrenfirma Sector hat ihn in ihr Sponsoring-Programm „no limits“ aufgenommen — als Nachfolger für den Pazifikruderer Gérard d'Aboville.

Mit freundlicher Genehmigung der Schweizerischen Wochenzeitung 'Sport Zürich‘.