Anders als all die anderen

■ Erster und letzter Versuch einer Ausdifferenzierung der Gattung Touristen. Ein Beitrag zur Lifestyle-Forschung

Erster und letzter Versuch einer Ausdifferenzierung der Gattung Touristen. Ein Beitrag zur Lifestyle-Forschung VON KARL ANTON & VORORTH

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ie schlimmsten sind die anderen. Sowieso. Komisch ist nur: Die anderen sind auch die beliebtesten. Obwohl längst alles über die gesagt und geschrieben ist, sind alle begierig, immer wieder von ihnen zu hören und über sie zu lesen. Sie faszinieren, die anderen. Jeder verabscheut sie — und jeder braucht sie scheinbar doch.

Die Spezies der anderen ist inzwischen gut erforscht: Grundsätzlich gehören alle anderen einer von zwei großen Gruppen an.

Da sind die Massen, auch Pauschaltouristen oder Neckermann-Fritzen. Unschwer sind sie an ihrem typischen Verhalten auszumachen. Sie trampeln gerne die letzten Alpenprimeln nieder, lassen sich mit Negerkindern fotografieren und bestellen auf Mallorca Eisbein mit Sauerkraut — nichts von dem berührten sie zu Hause.

Die Massen sündigen in der Fremde am laufenden Band. Nachts auf dem Campingplatz in Malaga saufen sie, gröhlen die Wacht am Rhein und pinkeln hinter Nachbars Zelt. Wenn der Spanier mit Salsa aus dem Kofferradio dagegenhält, brüllen sie: „Ruhe hier, wir sind doch nicht auf dem Basar.“

Freilich nicht. Denn dort feilschen die Massen bekanntlich um Bruchteile von Pfennigen und zahlen für die Teekanne, die sie für einen Samowar halten, das Fünffache des Ladenpreises. Sie haben stets Sonnenbrand auf den Wülsten um den Bauch, trinken um 11 Uhr ihr erstes Bier und reißen schweinische Witze über die Zimmermädchen.

Teutonische Barbaren, die sie sind, verwechseln sie Hälsingborg und Helsingör, halten Stazione Termini für eine Pizza und wissen alten Balsamessig in keiner Weise zu schätzen. Am Strand siedeln sie in Kolonien, bauen Neuschwanstein in die Dünen und hissen deutsche Fahnen mit dem Bundesadler.

Trifft man auf einzelne Vertreter der Massen, so teilen sie einem ungefragt mit, daß sie ein Sägewerk im Bayerischen Wald haben und eine Tochter, die in Wyoming verheiratet ist. Waren Sie schon mal in den Staaten? ist ihre Standardfrage, bevorzugt gerichtet an Leute, die noch nie einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt haben. Ist schon irgendwie beeindruckend. Die Massen sind unausstehlich.

Das wiederum haben sie mit den anderen anderen gemeinsam, den Individualtouristen oder Einzelreisenden. Der Individualtouristen größte Sorge ist, von den Einheimischen für einen Teil der Massen gehalten zu werden. Um dies zu vermeiden, gehen sie weite Umwege durch die Vorstädte und geben sich leutselig. Geraten sie per Zufall aber trotzdem einmal in die Nähe einer Massen- Gruppe, die aufmerksam ihrem Reiseführer lauscht, wenden sie dieser unbeteiligt den Rücken zu und spitzen die Ohren. Man lernt ja nie aus ist einer ihrer Kernsätze. Kurz vor Schluß gehen sie auf Zehenspitzen weiter. So vermeiden sie, den Mann mit Trinkgeld zu beleidigen.

Alles, was die Massen freut, insbesondere das Bad in denselben, ist den Individualtouristen ein Greuel. Nie findet man sie bei einem Allgäuer Heimatabend. Lediglich in der Stierkampfarena fühlen sie sich wohl, inmitten von aficionados, die ihre deutschen Freunde schulterklopfend „Hombre!“ nennen — bis die La Ola und Olé verwechseln.

Individualtouristen halten sich für ausgeprägte Persönlichkeiten mit hochentwickeltem Geschmack. Gern speisen sie in Fast-food-Ketten, immer unter der lauthals abgegebenen Versicherung, daß sie sich dieser exotischen Erfahrung des Massenfraßes Junkie-Food schon längst einmal aussetzen wollten. Fressen und grinsen greulich ironisch.

Üblicherweise nächtigen sie zu vielen in kleinen Pensionen für einzelne. Dort bedrängen sie den Hausvater, ihnen vom Hauswein, der zum Hausgebrauch gekeltert wurde, ein paar Flaschen zu verkaufen. Zücken mit großer Geste die Börse und hoffen, daß der padrone zu einer ebensolchen fähig ist. Und die paar Liter zum Geschenk erklärt.

Ist ihnen das Urlaubsglück so wenig gewogen, daß sie nur noch ein Bett im Massen-Hotel finden, durchqueren sie das Foyer jedesmal mit einer Miene von so viel Gram und Verachtung, daß selbst der englische Kolonialoffizier tiefer in den Sessel rutscht.

Am besten wissen Individualtouristen, wie man mit Eingeborenen umgeht. Natürlich sprechen sie die Landessprache, manchmal mehrere, meist nur „das Notwendigste“, immer aber so viel, daß sie sich anheischig machen, bei den Carabinieri für den Landsmann zu dolmetschen, dem die Brieftasche geklaut wurde: Vielleicht darf ich mich da mal einschalten.

Jeder einzelne Individualtourist ist im Urlaub angestrengt. Stets versucht er, seiner eigentlichen Bestimmung gerecht zu werden: der Suche nach dem Individuellen. Das Geheimtip- Restaurant. Das jungfräuliche Tal. Der handgeschnitzte Armleuchter

Daher rührt, daß Individualreisende Worte lieben wie „unverfälscht“, „prachtvoll“ und „auf eigene Faust“. Gerne sagen sie auch: „Es war ein phantastischer Tag“ — mit genau dem verträumten Lächeln des Pußzta-Freundes von American Express.

Masse und Individualtouristen also. Versoffene Dummköpfe die einen, aufdringliche Besserwisser die anderen. Eine, zugegeben, grobe, aber durchaus hilfreiche erste Orientierung. Näher betrachtet, lassen sich zahlreiche Unterarten der anderen feststellen, kleinere Einheiten, die nicht immer eindeutig einer der beiden Hauptgruppen zuzuordnen sind, sondern oft interessante neue Schnittmengen bilden. Eines allerdings haben sie gemeinsam: Sie halten einander für unsäglich. Sie sind es. Alle. Sowieso.

S

o wissen wir beispielsweise von den Schmuddel-Schmarotzern. Freaks, den Anforderungen des modernen zivilisatorischen Lebens nicht gewachsen, die unter die entlegenste Südseepalme westeuropäische Schnupfenbazillen schleppen, sich mittels billiger Transistorradios Eingeborenenmädchen gefügig machen und das bis dato hochstabile soziale Gefüge ganzer Dörfer zum Einsturz bringen.

Ihre Pendants sind nicht weniger unangenehm. Hochglanz-Schmarotzer lehnen am liebsten an der Reling des Kreuzfahrers, er im Dinnerjackett, sie im schulterfreien Abendkleid, werfen kleine, ach was: kleinste Münzen in die See und ergötzen sich am Gebalge braunhäutiger Kinder.

Da ist die Spezies der Abenteuer- Touristen, im lässigen Z-Liner mit eingezippter Innenjacke aus original Malden-Polarlite, ultralight, winddicht, wasserdicht und atmungsaktiv — wahlweise auch mit Thinsulate- Füllung. Outdoor-Rambos sie alle, die die Antarktis vollscheißen und das letzte Stückchen Regenwald mit den Alutüten ihrer Trockensuppen behängen. Ihnen wird jede Landschaft zum Gelände, jede Gegend zur Piste für den 4 WD des Jeeps. Natürlich sind sie blind für Geschichte, Kultur und Eigenarten eines Landes. Einheimische kommen für sie nur als begnadete Mechaniker und wenig motivierte Trekking-Führer vor. Ihr Gang ähnelt dem des Yeti.

Ganz anders dagegen die Bildungsreisenden, die sich in Volkshochschulkursen Stein für Stein auf die Besteigung der Burg von Carcassonne vorbereitet haben und befremdete Blicke über den Rand ihrer Halbbrille werfen, wenn jemand ausruft: „Kuck mal, Helmut, is et nicht schööön.“

Manchmal zitieren sie Plinius im Original, manchmal führen sie blasse, vorlaute Bälger mit sich. Die Kinder dürfen nicht in den „Fun Park“, weil in den „Fun Parks“ Kinder verblöden. Müssen sich statt dessen bei Aida in Verona frühe Hämorrhoiden ersitzen.

Auf die Jungmannen-Touristen trifft man in Clubs. Ihre touristische Sendung besteht darin, mit Hilfe farbenprächtiger Accessoires — Surfbrett, Snowboard, Mountainbike — eine gute Figur zu machen, was ihnen auch oft gelingt. Die noch verbleibende Zeit nutzen sie, ihre bronzene Haut, unter der Fleischberge zucken, von blonden und brünetten Frauen einölen zu lassen. Ihr Hirn, heißt es, sei so klein wie das eines Spatzen. Und wenn einer von ihnen im Westöstlichen Diwan liest, legt er es bloß darauf an, intellektuelle englische Fräuleins herumzukriegen — wie überhaupt die anderen im Urlaub nur auf Sex aus sind.

Mit Ausnahme lediglich der Sammler und Jäger. Sie plagt nur eine Sorge, aber die andauernd: Ob das Restlicht wohl noch reicht? „Tiefenschärfe“ ist ihr Daseinszweck, „Motiv“ ihr Lebensinhalt, das Zoom ihr Tunnel in die Welt.

Gejagte Leute ohne inneren Frieden sind sie, darin durchaus vergleichbar den sogenannten Gastroitis-Touristen, die zwischen Zwei-Sterne- Schuppen und Drei-Mützen-Gruft pendeln, die Kellner mit dem Weinthermometer terrorisieren, an kleinen, bösen Siebeck-Sätzchen für den Leserbrief an den 'Feinschmecker‘ feilen und die Zeit zwischen den Mahlzeiten verdauend verpennen.

In der Bresse, erinnern sie sich, wachsen die Hühner, im Marnetal, da lebt der Brie, und in der Normandie waren die Austern so groß wie im KaDeWe. Kulinarische Sensibelchen sind unter ihnen, die Lungenhaschee und römische Kutteln nicht in den Mund, sondern unters Tischtuch schieben, aber auch Allesfresser ohne Furcht und Tadel, die tief beleidigt sind, wenn der Kellner es versäumt, ihnen von den gerösteten Schweineschwänzchen aufzutun.

Am kulinarischen Equipment läßt sich auch die jüngste Spezies der anderen ausmachen: Der sanfte Tourist. Er reist bevorzugt mit umgeschnallter Getreidemühle. Per Fahrrad, und das schiebt er. Will Eindrücke sammeln. Keine Kröten töten.

Das sind sie, so sind sie, die anderen. Ein schreckliches Volk. Können nicht anders. Ich selbst? Besser? Aber nein. Etwas ... differenzierter vielleicht, oder — bewußter. Ein bißchen anders eben als die anderen. Sagen die von sich auch? Versteht sich. Sowieso.