piwik no script img

„Die russische Armee hat das Massaker begonnen“

■ taz-Korrespondent Ömer Erzeren sprach mit den aserbaidschanischen Überlebenden des armenischen Massakers in Berg-Karabach Augenzeugen sprechen von über 1.000 Toten

Die Leichen liegen auf dem nackten Marmorboden. Eine dreckige Decke wird gelüftet. Vor mir eine junge, schlanke Frau. Ihr Körper bläulich-schwarz. Eine Kugel hat ihre Brust durchbohrt. Der Schädel des Mannes, der neben ihr liegt, ist aufgerissen, das Hirn ausgelaufen. Um die Ecke zwei weitere Leichen. Ein regloser Körper ohne Kopf. Dann noch eine Leiche. Eine Stimme spricht im Hintergrund: „Niemand konnte diese vier Leichen identifizieren. Deshalb haben wir sie nicht beerdigt.“

Es ist gegen Abend und Aga Selim Ahindow, der geistliche der Moschee in Agdam, hat heute das letzte Gebet für 70 Menschen gesprochen. Allesamt Opfer des armenischen Massakers an der Bevölkerung des aserbaidschanischen Dorfs Hocali, nur 14 Kilometer von Agdam entfernt. Die Totenhallen der Moschee von Agdam ist letzte Stätte für die Opfer der Barbarei. Von Kugeln zerfetzte Kinder, Menschen, deren Augen nach dem Tod ausgestochen wurden, Frauenleichen, deren erfrorene Finger nachträglich abgeschnitten wurden, um Ringe zu plündern — Hocali ist ein Synonym für Barbarei.

In den vergangenen vier Jahren sind über 1.000 Aserbaidschaner und Armenier in Berg-Karabach gestorben. Beide Seiten sind bewaffnet. Gefechte zwischen Milizionären sind üblich — auch daß Zivilisten dabei den Tod finden. Doch dieses Massaker in der Nacht vom 25. auf den 26.Februar war etwas anderes. Das Dorf Hocali, wo vor zehn Tagen noch 6.000 Menschen lebten, existiert nicht mehr. Es war ein Ausrottungsfeldzug, mindestens tausend Menschen wurden ermordet. Und mit Hocali ist eine der letzten aserbaidschanisch-türkischen Siedlungen in Berg-Karabach von den Landkarten getilgt.

Hocali existiert nunmehr in der Leichenhalle der Moschee von Agdam, Hocali ist in den Eisenbahnwaggons auf dem Bahnhof von Agdam, wo Ärzte versuchen, die Verletzten zu behandeln. Das Krankenhaus in Agdam ist längst nicht mehr funktionsfähig. Ein Mann starb, als eine Rakete einschlug und die Stromversorgung zerstörte. Obwohl Agdam formell außerhalb Berg-Karabachs liegt, wird es seit Wochen beschossen. Die Musikschule, das staatliche Gästehaus, eine Buchhandlung gehören zu den zerstörten Gebäuden. Doch ein Fluch war es, daß das Krankenhaus beschossen wurde, als die Sterbenden aus Hocali eintrafen. „Wir hatten hier 200 Leute. Durch Geschosse Verletzte, Erfrorene ersten und zweiten Grades. Wir schicken sie nach Baku. nach zwei Wochen entscheidet man über die Amputation“, erzählt der Arzt Samhalov Mohammedoglu in einem der Zugabteile, wo die Verletzten liegen. In der kalten, riesigen Lagerhalle des Bahnhofs operieren Ärzte einen jungen Mann, Kugeln sollen entfernt werden. Er stirbt und wird weggetragen.

Flucht über die Berge

Hocali existiert auch noch auf dem ehemaligen Lenin-Platz in dem 30.000 Einwohner zählenden Agdam. Ein Platz, wo Hunderte ausharren. Fast 1.000 Menschen ist nach mehreren Tagen Marsch über die verschneiten Berge die Flucht von Hocali nach Agdam gelungen. Der 27jährige Agronom Talibov Ahmiv Semedoglu gehört zu den Privilegierten, die sich auf dem dreckigen Teppich des Agdam-Hotels einen Schlafplatz ergattern konnten. Er erzählt, wie gegen 23 Uhr nachts die Panzer begannen, das Dorf Hocali zu beschießen. Die Häuser gingen in Flammen auf. Panikartig verließen alle die Häuser. Durch das Artilleriefeuer. In Richtung der verschneiten, bewaldeten Hügel und Berge, die Schutz versprachen. „Hocali ging in Flammen auf. Unser Weg hinauf auf die Hügel war gepflastert von Leichen“, erzählt Semidoglu mit erstarrter Stimme. „Wir waren 40 in unserer Gruppe. Fünf Tage haben wir gebraucht, um nach Agdam zu kommen. Zu essen gab es nichts. Doch wir aßen den Schnee. Von den 40 sind 20 durchgekommen. Die übrigen liegen in den Bergen. Auf der Flucht erschossen oder erfroren.“ Es folgt die lange Liste der Angehörigen, die gestorben sind.

Wer den Schrecken von Hocali überlebt hat, kann mindestens ein Dutzend engster Verwandter und Freunde aufzählen, die vor seinen Augen gestorben sind. Die Kinder waren stets die ersten. Temperaturen bis zu zehn Grad minus herrschten des Nachts auf den Hügeln, wo etwa 40 Zentimeter Schnee liegt.

Hunde ohne Herren

Der 50jährige Talibor Yusuf Rahimoglu ist einer von denen, die auf dem ehemaligen Lenin-Platz ausharren. Er steht völlig apathisch herum. Längst hat er jede Hoffnung, jedes Gefühl, ja, jede menschliche Regung verloren. „Wir haben kein Recht auf Leben. Gott hat uns das Recht auf Leben verwirkt.“ Seine beiden Brüder, seine vier Schwestern sind in der Hölle von Hocali in den Flammen umgekommen. Fast 60 Menschen, die ganze Großfamilie. Nur zehn sind in Agdam angekommen. Rehimoglu war 46 Jahre alt, als er zusammen mit über hunderttausend Aserbaidschanern aus seiner Heimatstadt Eriwan aus Armenien vertrieben wurde und sich in dem asarbaidschanischen Dorf Malbeyli in Berg-Karabach niederließ. Doch die Vetreibung ging weiter. Von Malbeyli floh die Familie nach Hocali. Yusuf Rehimoglu hat kein Haus und keine Familie mehr. Auf dem Platz versucht er, Angehörige zu finden.

Die erregten politischen Diskussionen auf dem Platz interessieren ihn nicht. Ein junger Aserbaidschaner, einer der Überlebenden von Hocali, fährt einen Asarbaidschaner aus Agdam an. „Was redest du bloß über die Greueltaten der Armenier? Zu allererst haben uns die Russen geschlachtet, erst an zweiter Stelle kamen die Armenier. Sie sind Christen und machen gemeinsame Sache gegen uns Moslems.“ Das marmorne Mahnmal für die Opfer des Faschismus steht wenige Kilometer von Agdam entfernt. Ein runder Sockel, darüber schwarze Säulen. In heroischer Pose sind zwei Frauen und ein Mann, die die Kämpfer im „Großen Vaterländischen Krieg“ symbolisieren sollen, in Stein gehauen. Alemdar Kuluzede, ein 40jähriger gebürtiger Berg-Karabacher zeigt mir die Stätte. 19 Jahre hat er in Stepanerkert gelebt. Wie die anderen hat er mehrere Familienangehörige in Hocali verloren. „Sie metzeln die Hunde ohne Herren nieder“, sagt er. Eine Anspielung auf den armemnisch- aserbaidschanischen Konflikt — die Asarbaidschaner als Hunde ohne Herr, die Armenier als Hunde mit Herr, mit dem Russen. Er blickt auf das Mahnmal. „Wir haben damals das Land unserer Mörder gegen die Feinde verteidigt.“

Wenige hundert Meter von dem Mahnmal entfernt haben die Aserbaidschaner begonnen, ihre Toten zu beerdigen. Frisch aufgeschüttete Gräber. In einen der Erdhaufen ist ein Holzstück gesteckt, mit Bleistift ein Name: Aliyef Abulfahd Alioglu. Ein Pulk von Frauen beklagt ihren Toten. Sie erheben die Hände und stimmen im Totengesang ein, sie sacken auf den Boden. Sie versuchen sich Schmerz zuzufügen, um das Leid zu vergessen.

Am Grab von Alioglu gewinne ich einen Freund. Ein Mann in zerlumpten, staubigen Kleidern. Jussif Sawalan. Jussif, der Lehrer am Pädagogischen Institut Baku ist. Jussif, der Dutzende Gedichte von Heinrich Heine in makellosem Deutsch hintereinander rezitieren kann. Jussif, der Heine in mehreren Sammelbänden ins aserbaidschanisches Türkisch übersetzt hat. Jussif, wie viele Aserbaidschaner aus Berg-Karabach des Armenischen mächtig, der armenische Dichter auf Türkisch publizierte. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr lebte er in Hocali. Nach dem Massaker ist er hierher gekommen, um seine Angehörigen zu suchen. Das Grab ist das Grab seines Neffen. Und Jussif sucht seinen Vater. Er ist vermißt. Niemand hat ihn sterben sehen.

Hocali, das Nachbardorf des armenischen Nahcivanik, das Dorf mit den Kirsch- und Apfelbäumen, mit seinen Gänsen und seiner kleinen Fabrik, wo einst Hunderte gearbeitet haben, gibt es nicht mehr.

Das Massaker von Hocali wirft vielleicht ein Licht auf die Zukunft der Völker nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Die Übergriffe und Vertreibung der Aserbaidschaner aus Eriwan und der Armenier aus Baku und Sumgait waren ein Vorspiel. Doch Berg-Karabach ist die Wunde, auf die Salz gestreut wurde: Ein Völkerkrieg, ein Rassenkrieg, ein religiöser Krieg aller gegen alle hat begonnen.

In Hocali sind dieses mal nicht nur Asarbaidschaner massakriert worden. In dem aserbaidschanischen Dorf Hocali hatten sich nach 1989 rund 1.000 Ahiska-Türken, unter dem Namen Mesketen bekannter, angesiedelt. Das Volk der Ahiska- Türken, die an der georgisch-türkischen Grenze lebten, wurden 1944 von Stalin vertrieben und zerstreuten sich in der gesamten Sowjetunion. Doch die meisten kamen in die verbannung ins zentralasiatische Usbekistan. „Ich habe mein Alter vergessen“, spottet der 18jährige Server Racepow. In Usbekistan, in der Sowchose Endian, hat er gearbeitet. Bis die Pogrome gegen die Ahiska-Türken in Usbekistan begannen. Aus dem Nachbarbezirk Fergana kamen 40 Leichen in die Sowchose, Opfer des Pogroms. Das Hab und Gut blieb in Usbekistan. Schließlich bekamen sie „finnische Häuser“, Häuser aus Holz im Dorf Hocali. „Wir hatten dort ein neues Leben begonnen. Wir haben Land angebaut. Wir hatten Kartoffeln und Zwiebeln auf den Feldern“, sagt Server Racepow. Doch die Massaker, denen sie in Usbekistan entfliehen wollten, holten sie in Berg-Karbach wieder ein. In dem einstigen Restaurant des Hotels in Agdam ist eine Art Volksküche eingerichtet, wo die Flüchtlinge Essen erhalten sollen. Doch die, die vor wenigen Tagen erst gemeinsam den mörderischen Geschossen entkommen sind, sind wie Wölfe gegeneinander. Die Ahiska-Türken kriegen als letzte einen Schlafplatz in Agdam. Ein paar Aserbaidschaner wollen ihnen den Zugang zur Volksküche versperren. „Uns geben sie kein Essen, weil wir Ahiska-Türken sind“, schreit jemand vor dem Eingang der Volksküche.

Doppelte Flüchtlinge

Alle Flüchtlinge aus Hocali berichten, daß das Massaker ohne die aktive Teilnahme der in Berg-Karabach stationierten russischen Verbände nicht möglich gewesen wäre. Immer wieder dieselben Aussagen der Überlebenden: „Die schwere Artillerie und die Panzer, die uns eingekesselt und beschossen haben, waren unter russischer Regie. Erst später sind die armenischen Milizionäre in Hocali eingedrungen.“ Die Asarbaidschaner, die in Berg-Karabach militärisch ohnehin den Armeniern unterlegen sind, sind der festen Meinung, daß das 366. Regiment der ehemaligen Sowjetarmee gemeinsame Sache mit den Armeniern macht. Die Aussagen zweier Turkmenen, die aus dem 366. Regiment, welches in Stepanerkert stationiert ist, vor wenigen Tagen dersertierten, bestätigen diese Aussagen.

Nach dem Massaker in Hocali bestimmt nicht der Haß auf Armenier die politischen Diskussionen. Die Russen und die aserbaidschanische Regierung erscheinen als die Hauptfeind. Allesamt verfluchen sie Ayaz Mutalibow, den Präsidenten. „Marionette der Russen, Verräter“, sind die Stichworte. Mutalibow, ein Apparatschik, der sich mit Intrigen an die Macht gedrängt hat, genießt nicht die geringste Sympathie in der Bevölkerung. In Karabach erst recht nicht. Die Katastrophe von Hocali war voraussehbar. In den ersten Tagen versuchte die aserbaidschanische Regierung — trotz besseren Wissens — noch die Zahl der Toten zu verheimlichen. Am 27.Februar war von zwei Toten die Rede. „Auf zur Demonstration nach Hocali“, schreit eine Frau auf dem ehemaligen Lenin-Platz. Die Umstehenden pflichten ihr bei.

Kritik an der eigenen Regierung

Gegen Abend sammeln sich die Hunderte vor dem Gebäude der oppositionellen Volksfront, gleichzeitig eine Art militärisches Oberkommando der Aserbaidschaner. Sie warten auf die Helikopter aus Karabach, warten auf Tote, warten auf Geiseln, die ausgetauscht werden. Nicht die ehemaligen Parteisekretäre oder die Regierung in ihrem Prunkbau organisiert praktische Hilfe, sondern die Volksfront in ihrem bescheidenen Haus. Die Volksfront ist es auch, die zuweilen in Dialog mit den Armeniern tritt, um praktische Fragen in dem blutigen Bürgerkrieg, wie zum Beispiel Austausch gefangener Geiseln, zu organisieren. Ein Transparent des aserbaidschanischen Dichters M. Schaerijar hängt über dem Eingang und spiegelt den erwachenden Nationalismus wider: „Aserbaidschan wage den Aufstand, erwache, erhebe dich, sei frei oder verbrenne.“ „Wir hatten den Plan, einen Durchbruch ins eingekesselte Hocali zu starten. Doch die Herrschenden haben es verhindert“, sagt Tehmasip Nowrozlu von der Volksfrontzeitung 'Ana toprak‘ (Muttererde). „Zweitauend Aserbaidschaner sind massakriert. In welchem Land der Erde könnte es passieren, daß keiner der Regierenden nach so einer Katastrophe sich nicht einmal bei den Opfern sehen läßt?“

Stundenlang harren am Nachmittag die Menschen vor dem Gebäude der Volksfront aus. Hier treffen wir auf den Arzt Mehmet, der zusammen mit dem Vater von Jussif fliehen mußte. Tage später haben die Armenier die fliehende Gruppe erneut unter Feuer genommen. „Dein Vater hat es überlebt. Doch schließlich ist sein Bein erfroren.“ Die Entkräfteten konnten ihn selbst nicht mehr tragen. „Der Schnee brachte den Tod, er starb bei vollem Bewußtsein.“ Die Nacht bricht in Agdam an. Das Rattern der Maschinengewehre beginnt.

Aus Baku Ömer Erzeren

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen