Frankfurt — Kapitale des Verbrechens

Die Mainmetropole liegt einsam an der Spitze der Kriminalstatistik/ Kriminalität wird zum Topthema/ Mehr Polizei für das „subjektive Sicherheitsgefühl“/ Razzien bleiben ohne Wirkung  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) — Großrazzia in der B-Ebene unterm Frankfurter Hauptbahnhof: Bundesgrenzschützer und Bahnpolizisten trieben am vergangenen Dienstag die Fixer, Dealer und Penner mit „sanfter Gewalt“ aus den Katakomben hinaus auf die Kaiserstraße und weiter in Richtung Innenstadt. Die Reisenden und Angestellten der zahlreichen Läden in der unterirdischen Einkaufspassage klatschten demonstrativ Beifall. Die Aktion „Bavis“ — Bahnhof als Visitenkarte — war nach einhelliger Meinung derer, die es satt haben, über gebrauchte Fixen zu stolpern und auf Erbrochenem auszurutschen, längst überfällig. „Das war doch nicht mehr zum Aushalten“, sagt eine Verkäuferin aus dem Tabakladen. „Überall die ,Fertische‘, die blutbeschmierten Tempos, überall die Spritzen und die aggressive Bettelei dieser Leute.“ Man sei doch hier unterm Bahnhof seines Lebens nicht mehr sicher gewesen.

Doch schon am Abend waren sie wieder da, die Dealer und die Zuhälter mit ihren waffenscheinpflichtigen Hunden, die Süchtigen auf „Turkey“ und die drogensüchtigen jungen Prostituierten, die Junkies, die aus Geldnot die Autos in der Tiefgarage am Bahnhof und im ganzen Viertel gleich in Serie knacken und die aus Verzweiflung — mit der Fixe in der Hand — schon einmal auf eine Zigarettenverkäuferin losgehen. „Wir wissen, daß wir diese Leute letztendlich nur kurz verdrängen können, daß sie sich nicht in Luft auflösen“, sagt ein Bahnpolizist nach der Razzia resigniert. Die einzige Hoffnung: Daß diese „härtere Gangart“ die Szene so beeindruckt, daß sie freiwillig das Bahnhofsgelände meidet — eine mehr als trügerische Hoffnung. Schon am Tag nach der Razzia machen die Bürgerinnen und Bürger wieder gekonnt einen Bogen um das in der B- Ebene versammelte Elend. Und von den Fixern stirbt wieder täglich einer auf den Bahnhofstoiletten. Wie vor der Razzia setzen sich die Junkies auf den Treppen zu den Straßenbahnen ihren Schuß — und andere liegen in ihrem Urin an den gekachelten Wänden. Die Polizei hat inzwischen in einem Glaskasten in der B-Ebene Stellung bezogen. „Präsenz zeigen“ heißt die neue Parole.

Die Mainmetropole Frankfurt ist die Kapitale des Verbrechens in Deutschland. Und Frankfurt ist nach Marsaille und London der drittgrößte Umschlagplatz für Drogen in Europa. Rund zwei Drittel aller Straftaten in Hessen werden in Frankfurt begangen, wie der hessische Innenminister Herbert Günther (SPD) bei der Vorstellung der Kriminalstatistik 1991 in Wiesbaden erklärte. Es habe sich erneut bestätigt, daß das Rhein- Main-Ballungsgebiet als internationales Verkehrs-, Finanz- und Geschäftszentrum nach wie vor zahlreiche Gelegenheiten zu Straftaten und Möglichkeiten zum Erwerb von Rauschgiften biete. Günther: „Alleine im Bereich des Polizeipräsidiums Frankfurt wurden 33,1 Prozent aller in Hessen registrierten Straftaten, darunter 44,9 Prozent der Rauschgiftfälle, bearbeitet, und 47,4 Prozent der Drogentoten festgestellt.“ Auch bundesweit nimmt Frankfurt den Spitzenplatz in der Kriminalstatistik — Straftaten pro Kopf der Bevölkerung — ein.

Vor rund zwei Wochen heizte ein brutaler Raubmord in der Innenstadt die permanente Debatte um „Crime- City“ am Untermain zusätzlich an. Eine Garderobenfrau war von einem Unbekannten vom Fahrrad geschossen worden — durch den Kopf und offenbar wegen ihrer am Lenker hängenden Handtasche. Daß sich die Mitglieder der jugoslawischen- und marokkanischen Gangs im Bahnhofsviertel fast wöchentlich einen „Showdown“ liefern, Unterweltler in einschlägigen Etablissements erschossen werden und die Springmesser im „Red-Light“-Distikt locker sitzen, wird inzwischen schon als „normale Härte“ hingenommen: „Verteilungskämpfe im kriminellen Milieu“ (Günther).

Bei aufgebrochenen Autos kommt die überlastete Polizei schon nicht mehr zum Tatort. Die Aufklärungsquote liegt schließlich bei nur 2,7 Prozent. Und auch der Handtaschen- und Geldbörsenraub auf der Einkaufsstraße Zeil gehört mittlerweile zum Alltag in der Metropole. 62,8 Prozent — das sind 273.897 Straftaten — beträgt in Hessen der Anteil der Diebstahlskriminialität an der Gesamtkriminalität. Schwerpunkt ist Frankfurt. Die Tendenz ist steigend, insbesondere bei den Diebstählen aus Kraftfahrzeugen. Auch bei den Raubdelikten gab es eine gravierende Zunahme um 22,3 Prozent auf 4.726 Straftaten — Aufklärungsquote 35,4 Prozent.

Generell konstatierte der Innenminister eine „höhere Gewaltbereitschaft“ bei der kriminellen Geldbeschaffung. Diese „Tendenz zur Brutalisierung“ werde auch durch einen neuen Höchststand der registrierten gefährlichen und schweren Körperverletzungen (5.191 Straftaten in Hessen) bestätigt. Mord- und Totschlagsdelikte haben im Vergleich zum Vorjahr um 2,3 Prozent zugenommen. Einen „Langzeittrend abehmender Fallzahlen“ sei dagegen bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu beobachten. So seien 1991 in Hessen 475 Vergewaltigungen angezeigt worden — exakt sieben Fälle weniger als im Vorjahr.

Wie sehr die Mainmetropole Frankfurt die Kriminalstatistik dominiert, macht ein Vergleich der auf die drei hessischen Regierungsbezirke entfallenden Straftaten deutlich: Während im Regierungsbezirk Kassel 14,1 Prozent der Straftaten in Hessen begangen wurden und im Regierungsbezirk Gießen gar nur 11 Prozent, entfielen auf den Regierungsbezirk Darmstadt mit Frankfurt 73,6 Prozent aller Straftaten. Daß die Staatsdiener in einer Stadt, in der das Geld auch die kommunale Welt regiert und knapp 400 in- und ausländische Banken ihren Sitz haben, einfach die Hand aufgehalten und „mitverdient“ haben am Boom von „Rhein-Main-City“, belegt eine andere Statistik: Etwa 1.000 Ermittlungsverfahren vor allem gegen Bedienstete der Stadt Frankfurt und der noblen „Vorstadt“ Bad Homburg hat die Frankfurter Staatsanwaltschaft inzwischen eingeleitet — wegen Bestechlichkeit im Amt und wegen Fälschungsdelikten. Von den 130 Urteilen, die bislang im Zusammenhang mit den Frankfurter Schmiergeldaffairen der späten 80er Jahre von den Gerichten gefällt wurden, lautete keines auf Freispruch. Zum Teil wurden aufgrund der erheblichen „kriminellen Energie“ der Angeklagten empfindliche Freiheitsstrafen bis zu sieben Jahren verhängt. Und aufgrund der jüngsten Fälle von Bestechlichkeit in Bad Homburg und im gesamten Hochtaunuskreis sind auch die U-Haftanstalten wieder voll von kommunalen Beamten und Angestellten.

Daß die Finanzmetropole Frankfurt auch Tummelplatz für Wirtschaftskriminelle ist, versteht sich. Statistisch quantifizier- oder qualifizierbar seien die Straftaten im Bereich Wirtschaftskriminalität allerdings noch nicht, sagte Innenminister Günther, „auch wenn dort zunehmend organisierte Strukturen und Verflechtungen auszumachen sind“. Deshalb sei die Wirtschaftskriminalität — neben der organisierten Kriminalität — aus kriminalpolitischer Sicht ein zweiter „Bekämpfungsschwerpunkt“. Günther: „Von diesen beiden Kriminalitätsphänomenen gehen die markantesten Bedrohungen der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger und eines geordenten Wirtschaftslebens bis hin zur Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates aus.“ Als Deliktschwerpunkte der organisierten Verbrecher benennt Günther vor allem den Rauschgifthandel, Schutzgelderpressungen, illegales Glücksspiel, Fälschungs- und Vermögensdelikte sowie den organisierten Diebstahl und die Kriminalität „im Zusammenhang mit dem Nachtleben“.

Kriminalität ist inzwischen zum Topthema bei den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt geworden. In den Leserbriefspalten der Lokalzeitungen fordern verunsicherte Männer und Frauen aller sozialen Schichten verstärkten Polizeischutz vor „Mord und Totschlag“ und — immer öfter — die umgehende Ausweisung straffällig gewordener Ausländer. Tatsächlich betrug der Anteil der „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ im vergangenen Jahr in Hessen 36,5 Prozent. Allerdings seien dabei auch Täter berücksichtigt, die gegen das Ausländer- und das Asylverfahrensgesetz verstoßen hätten. Ohnehin, so Günther, sei diese Zahl wenig aussagekräftig, da Illegale, Durchreisende, Touristen und Angehörige der Stationierungsstreitkräfte nicht in der Bevölkerungsstatistik enthalten seien, bei der Zählung der Tatverdächtigen aber berücksichtigt würden. Dennoch: „Auch unter Berücksichtigung dieser Aspekte bleibt eine deutlich überrepräsentierte Kriminalitätsbelastung der nichtdeutschen Tatverdächtigen bestehen.“ Bei nichtdeutschen Kindern und Jugendlichen zeige sich gar eine fast dreimal so hohe Kriminalitätsbelastung wie bei den deutschen Vergleichsgruppen.

Rechtslastige Parteien wie etwa die NPD kochen mit der Angst der Bevölkerung vor kriminellen Übergriffen seit Jahren ihre braunen Süppchen auf offenem Feuer: „Als Scheinasylanten kommen viele Rauschgifthändler und andere Kriminelle nach Hessen. Die Polizei wird dem nicht mehr Herr. Sie kann in Frankfurt nicht einmal mehr die Hälfte aller Straftaten aufklären. Wo soll das noch hinführen?“ Das schrieb die NPD schon 1989 auf ihre Flugblätter. Wahlanalytiker haben herausgefunden, daß gerade die gebetsmühlenartig vorgetragenen Forderungenen nach „Eindämmung der Kriminalität“ ursächlich für den Wahlerfolg der NPD in Frankfurt bei den letzen Kommunalwahlen war. Die Hetze gegen die „kriminellen Ausländer und Scheinasylanten“, die „umgehend ausgewiesen“ werden müßten, fiel in Frankfurt auf fruchtbaren Boden. Eine Kampagne der anderen Parteien gegen das Schüren der vorhandenen Ängste bei der Bevölkerung durch die Rechtsradikalen gab es in Frankfurt nicht.

Wie reagieren die etablierten Parteien heute auf die „Herausforderung Kriminalität“, die inzwischen auch Thema an den Stammtischen der Grünen und Alternativen im Nordend und in Bornheim geworden ist? Problemlos haben sich SPD und Grüne in Hessen darauf verständigen können, den Polizeidienst attraktiver zu gestalten und mehr Polizei in den Ballungsraum Rhein-Main zu holen. Auf Intervention des Ministerpräsidenten und des Innenministers hin wird demnächst der Bundesgrenzschutz am Flughafen Polizeiaufgaben übernehmen. Und die dort bislang eingesetzten Polizeibeamten werden auf die Problemkommunen Frankfurt-Offenbach und Hanau verteilt.

Polizeiausstattung mangelhaft

Daß die Ursachen der angestiegenen Kriminalität auch nicht mit noch mehr Polizei bekämpft werden können, weiß auch der Fraktionsvorsitzende der SPD im hessischen Landtag, Lothar Klemm. Aber der Rechtsstaat, so Klemm vor Monatsfrist im Offenbacher Polizeipräsidium, könne doch nicht einfach vor dem Verbrechen resignieren. Polizeipräsenz in den Problemzonen der Großstädte vermittele den Bürgerinnen und Bürgern schließlich das „subjektive Gefühl von Sicherheit“ und trage auch objektiv dazu bei, daß das Risiko für Straftäter wieder größer werde. Innerhalb der rot-grünen Hessenkoalition werde auch darüber nachgedacht, die Polizei besser auszustatten — „aber alles Schritt für Schritt entlang der knappen Haushaltsmittel“. Wer einmal im Bahnhofsviertelrevier der Frankfurter Polizei war, der weiß, daß die ohnhin überlasteten und überforderten Beamten dort den „High-Tech-Gangstern“ nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen haben. Da hämmern Polizisten auf Schreibmaschinen aus dem Industrie-Barock an Sperrmüllschreibtischen Anzeigenprotokolle über Autoradiodiebstähle. Auf der Kaiserstraße, in der B-Ebene und in den Bordellen wird derweil wieder zum „Kriminal-Tango“ aufgespielt.