Die »tödliche Ingrid« schlägt zurück

■ Die Schwusos luden zum Streitgespräch mit Sozialsenatorin Stahmer und dem Projekt HIV e.V. über die Zukunft der Aids-Pflege

Berlin. Nach dem erbitterten Streit über die weitere Finanzierung der ambulanten Aids-Pflegeprojekte »HIV e.V.« und »ad hoc« hatten die Schwusos in der SPD am Freitag abend ins Schöneberger Rathaus zu einem Streitgespräch zur Zukunft der Aids-Pflege eingeladen, ein Gespräch, an welches das Publikum hohe Erwartungen knüpfte. Zum ersten Mal nahmen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) und HIV e.V.- Chef Bernd Vielhaber gemeinsam auf einem Podium Platz. Neben ihnen: AOK-Geschäftsführer Herwig Schirmer und Schwuso-Chef Reinhard Naumann.

Naumann, der zu Beginn seine Parteifreundin Stahmer mit dem garstigen Kurzfilm »Die tödliche Ingrid« konfrontierte, heizte den alten Kampf noch einmal richtig an. In dem Streifen wirft Bernd Vielhaber der Senatorin vor, HIV e.V. hartherzig und böswillig im Stich zu lassen, obwohl die Bundesregierung die Förderung des schwulen Modellprojekts Ende September eingestellt hat. Ingrid Stahmer schlug gegen den »einäugigen Bernd« zurück: Sie habe HIV e.V. »nur aus taktischen Gründen« keine Landesmittel zugesagt, um die Krankenkassen in die Pflicht zu nehmen. Diese allein seien für die Übernahme der Pflegekosten zuständig.

Daß sich Stahmer und Vielhaber nicht an die Gurgel fielen, lag daran, daß sich die Ausgangslage in der letzten Woche verändert hat. Mit knapp 500.000 Mark sprang der Senat nun doch bei der Finanzierung der Pflegeprojekte ein. Zuvor war es mit Stahmers Hilfe gelungen, den Tagessatz der Krankenkassen für die Rund-um-die-Uhr-Betreuung eines Aids-Patienten von 320 Mark auf 428 Mark anzuheben. Der tatsächliche Bedarf liegt mindestens beim doppelten Betrag. Mehr aber sei nicht durchsetzbar gewesen, bedauerte AOK-Chef Schirmer. Einerseits bewilligten die Krankenkassen in westdeutschen Städten nur 200 Mark, andererseits befürchtete er »unbezahlbare Begehrlichkeiten« auch von Krebs-Patienten und alten Leuten.

Unklar blieb, ob HIV e.V. nun mehr Geld (Stahmer) oder weniger Geld (Vielhaber) zur Verfügung steht. Auf alle Fälle hat sich das Pflegeprojekt trotz Lohnkürzungen und Einsparungen zum Weitermachen entschlossen. »Im Moment streiten wir noch um 14.100 Mark«, meinte Vielhaber, der sich alsdann damit begnügte, der Senatorin alte Fehler und Versäumnisse um die Ohren zu schlagen.

»Ist denn nun wirklich alles in Butter?« hieß es nach zwei Stunden Vergangenheitsbewältigung aus dem enttäuschten Publikum. Bernd Offermann von der Schwulenzeitung 'magnus‘ erinnerte an die langen Wartelisten bei HIV e.V. und den steigenden Bedarf an häuslicher Pflege. Doch zum Antrag von HIV e.V. auf Projekterweiterung wollte sich Ingrid Stahmer nicht äußern. Zum einen könne sie die neue Situation erst in einem halben Jahr überblicken, zum anderen müßten die Pflegeprojekte weiterhin sparen: »Man soll nicht auf Badewannen pochen, wenn man das Duschen probieren kann.«

Die Chance, von Sozialsenatorin und Krankenkassen-Chef endlich Konzepte zur Bewältigung des Pflegeproblems einzufordern, ließen Reinhard Naumann und Bernd Vielhaber ungenutzt verstreichen. Dabei hätte gerade die Situation des dritten früheren Berliner Bundesmodellprojekts Anlaß sein können, Verbesserungen des unzulänglichen Pflegestandards der »normalen« Sozialstationen einzufordern. Stahmer ließ das Aids-Team der Arbeiterwohlfahrt (AWO) gehen. Als Folge wird es in eine Sozialstation integriert, die 24-Stunden-Pflege und ambulante Sterbebegleitung kaum noch gewährleisten kann. Darüber auf dem Streitgespräch zu informieren hat der AWO-Landesvorstand den Mitarbeitern allerdings untersagt. Micha Schulze