Alte Dame im Glitzerfummel

■ Hertha BSC gewinnt verdient gegen St. Pauli zu Beginn der Aufstiegsrunde mit 2:1 und träumt von der Bundesliga/ Auf Flugblättern wurde zu Gewalt gegen die Fans vom Millerntor aufgerufen

Charlottenburg. Wenn die Hertha will, kann sie die Betrachter ihrer Spiele aufs boshafteste mit schlechten Leistungen quälen. Nur wenn es gegen den FC St. Pauli geht, wird die zickige alte Dame trotzig und holt ihren glitzerndsten Fummel aus dem Schrank.

So rieben sich denn am Sonnabend zum Auftakt der Aufstiegsrunde 10.273 Menschen die Äuglein und konnten es nicht fassen; sie hatten ein richtig gutes Fußballspiel gesehen. Selbst ein Drittel von ihnen, die aus Hamburg gekommen waren, um ihren heißgeliebten FC St. Pauli gewinnen zu sehen, waren nicht sonderlich geknickt. Einzig die dummen Sprüche der Hertha-Fans vergällten ihnen das Spiel, ein am Stadion verteiltes Flugblatt (s. Dokumentation S. 17) gar forderte zur Gewalt gegen die friedlichsten Fans der Liga auf.

Bei einer Berliner Niederlage hätten die Hamburger Fans noch Schlimmeres zu befürchten gehabt, und so gesehen war es nur gut, daß die Spieler des FC St. Pauli den Herthanern klar unterlegen waren. Ihr Trainer Horst Wohlers gestand sogar freiwillig ein, seine Jungs hätten völlig verdient verloren. Sein Kollege Bernd Stange hingegen erstaunte ebenso wie die Hertha-Spieler: „Es ist ja nicht meine Art, aber heute bin ich zufrieden.“ So sehr, daß er gar meinte, das Spiel hätte auch gut in die erste Liga gepaßt. Nur stellten die Paulianer der Hertha zum Glänzen nicht allzu viele Beine in den Weg. Und wenn, dann mehr als Slalomstangen oder um sich hinterlistig tunneln zu lassen, was besonders Mario Basler diebische Freude zu bereiten schien.

Überhaupt der Möchtegern-Regisseur der Berliner. Mit begnadeten Talenten gesegnet, orientiert er sich meist lieber am Werdegang eines Herrn Wuttke und bekam dafür in letzter Zeit von Lehrer Stange öfter eins aufs übermütige Haupt. Nun erhielt er gegen St. Pauli seine letzte Chance im zentralen Mittelfeld und trug tatsächlich einen großen Teil zum Unterhaltungswert des Spiels bei. Auf ausdrücklichen Wunsch des Trainers soll aber kein Lob ausgesprochen werden.

Ebensowenig für Theo Gries. Kein anderer Herthaner wetzt so verkniffen ehrgeizig über den Platz, bloß braucht er für ein Tor meist ein halbes Dutzend hundertprozentige Chancen. Welch ein Glück für St. Pauli, die zwar nach kleinlautem Geständnis ihre Schulaufgaben nicht gemacht hatten und von der Leistung der Hertha überrascht waren, aber darauf spekulierten, daß Theo sowieso nicht trifft.

Was zunächst falsch war. In der 34. Minute ließen sie ihn ganz allein im Strafraum stehen, so daß er nur den Fuß gegen Lünsmanns Flankenball halten mußte, um das 1:0 zu schaffen. Diese Treffsicherheit verwirrte die ohnehin chaotische Pauli- Abwehr noch mehr, so daß sie nur eine Minute später den Torschützen vorsichtshalber im Strafraum umsemmelten.

Doch der zum Elfmeter angetretene Basler wollte die Spannung erhalten und schoß so, daß Paulis Keeper Klaus Thomforde mit einer gar bildhübschen Parade halten durfte. Das wiederum wurmte Basler so sehr, daß er fortan seinen Gegenspielern die Bälle so fies durch die Beine spielte, daß sie zu genialen Vorlagen für Gries gerieten, der aber dreimal völlig frei ... und so weiter.

Die Überraschungen und Geschenke für St. Pauli hatten aber noch kein Ende. Herthas Torwärter Walter Junghans besann sich seiner Spezialitäten und flog an einigen Flanken vorbei. Beim ersten Mal waren die Gästestürmer noch zu trottelig, dem zum leeren Tor kullernden Ball den entscheidenden Schwung zu geben, beim zweiten Mal hingegen entfleuchte Markus Sailer seinem behäbigen Gegenspieler Iliev und köpfte den Ausgleich.

Doch statt weiter die nun etwas schusselige Hertha zu bedrängen, spielte St. Pauli auf Zeit und ließ sich kurz vor Schluß von Marco Zernicke überraschen, der eine zu kurze Faustabwehr von Thomforde zum entscheidenden Treffer ins Tor drosch.

Vielleicht hat die Hertha nur so gut gespielt, weil sie nicht mehr absteigen kann und der Aufstieg unmöglich erscheint, nur wenn sie weiter so locker und unbeschwert spielt, gibt's wohl nicht nur für St. Pauli eine Überraschung. Schmiernik