Sprachlos zwischen Hammer und Amboß

■ Der kalte Staatsstreich in Algerien hat die zarten Hoffnungen auf eine Demokratisierung der arabischen Welt wieder zunichte gemacht. Vor allem in Ägypten wächst das Gefühl der Ausweglosigkeit AUS KAIRO IVESA LÜBBEN

Es gibt zwei Klassen von Menschen auf dieser Welt, die Söhne der Lords und die Söhne der Sklaven. Die Demokratie ist das Privileg der Söhne der Lords, den Söhnen der Sklaven wird es vorenthalten. Sie könnten ja eine Bombe unter ihren Bärten versteckt halten und würden sich mit der Demokratie nur selber schaden. Demokratie ist wie ein kompliziertes Flugzeug, das man einem Bauern, der nichts als seinen Esel kennt, lieber nicht anvertrauen sollte. So versucht es der Westen uns weiszumachen und wir glauben es ihm noch.“

Mit diesen sarkastischen Worten machte der Kommentator der ägyptischen Tageszeitung 'Al-Ahram‘, Ahmed Baghar, seinem Ärger über den Staatsstreich in Algerien Luft. Er weiß die Mehrheit der Ägypter hinter sich. 90 Prozent verurteilen die Machtübernahme des selbsternannten Staatsrates in Algerien, lautet das Ergebnis einer Meinungsumfrage der Oppositionszeitung 'Al-Schaab‘ zwei Wochen nach dem 9. Januar.

Die Wahlen vom 26. Dezember in Algerien waren ein historischer Einschnitt für die ganze arabische Welt. Das erste Mal fanden in einem arabischen Land freie Parlamentswahlen statt. Allerdings löste der Erdrutschsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) nicht nur im Westen Angst und Ratlosigkeit aus, sondern auch in der arabischen Welt. Die gewaltsame Unterbrechung des Demokratisierungsprozesses verstärkte dann bei vielen Arabern das Gefühl der Ausweglosigkeit und die Frustration.

Beide Ereignisse dürften die gegenseitige Sprachlosigkeit zwischen Orient und Okzident noch mehr erhöht haben. Denn es sind bei weitem nicht allein fanatische Anhänger islamischer Extremisten, die sich wie Ahmed Bahgat durch das Vorgehen gegen der FIS in ihrer Identität als Muslime tief verletzt fühlen. Die meisten Menschen im Nahen Osten machen den Westen zumindest indirekt verantwortlich.

Der Golfkrieg, Algerien und die Drohungen gegen Libyen seien Versuche, jede Unabhängigkeitsbestrebung in der islamischen Welt im Keim zu ersticken, schreibt der zum Islam bekehrte Ex-Kommunist und Chefredakteur der Zeitung 'Al- Schaab‘ Adel Hussein, und prophezeit Syrien und den Iran als nächste Ziele. „Die Ereignisse in Algerien“, heißt es in einer Erklärung der ägyptischen Moslembrüder, „sind Teil des neuen Kriegszuges der westlichen Großmächte, allen voran die USA, Frankreich, Großbritannien und das wiedervereinigte Deutschland, gegen den Islam. Sie stehen in einer Reihe mit der Besetzung Afghanistans durch sowjetische Truppen, der endgültigen Tilgung des Namens Palästina von der Landkarte des Nahen Ostens, der Kapitulation der Ölscheichs vor dem amerikanischen Staat und der Zerstörung des Iraks.“

Selbst diejenigen, die meinen, daß die algerischen Ereignisse eher hausgemacht seien, beklagen doch die klammheimliche Freude des Westens, die letztlich wie eine indirekte Aufforderung an das Militär wirke, unnachgiebig gegen die islamische Opposition vorzugehen. „Wenn das, was in Algerien passiert ist, in Osteuropa passiert wäre, dann hätte man sofort eine Wirtschaftsblockade verhängt.“ kommentierte die sozialistische Monatszeitschrift 'Al-Yassar‘ die Doppelmoral westlicher Reaktionen.

Legitimationskrise

Die Ereignisse in Algerien sind symptomatisch. Ausnahmslos alle arabischen Regime befinden sich in einer tiefen Legitimationskrise, und überall dort, wo sie den Ausweg in einer begrenzten demokratischen Öffnung suchten, gewann die islamistische Opposition an Einfluß. Die hehren Parolen der 50er und 60er Jahre von „Befreiung“, „Unnachgiebigkeit“ und „arabischem Sozialismus“ wurden im Laufe der Zeit zum Synonym für die Bereicherung einer kleinen Clique. Auch die Versuche der wirtschaftlichen und politischen Öffnung gegenüber dem Westen haben weder die wirtschaftlichen Probleme noch die Demokratiefrage gelöst, sondern die Gesellschaften weiter auseinandergerissen: In einen traditionellen, marginalisierten, unterentwickelten Sektor und ein „vorwestliches“ billiges Abbild amerikanischer McDonald's- und Disneykultur. Nur wenige sind dabei reich geworden. Selbst für große Teile der Mittelschichten war die wirtschaftliche Öffnung mit sozialem Abstieg verbunden. Auch ein Hochschulabschluß ist keine Garantie mehr für einen Arbeitsplatz.

Die von Modernisierungstheoretikern empfohlenen Versuche sozialistischer oder bürgerlich-liberaler Säkularisierung haben nirgends in der islamischen Welt zu einer Trennung von Staat und Religion geführt, sondern statt dessen zur Isolierung des Staates mitsamt der staatstragenden Klassen vom Rest der Gesellschaft. Die meisten Menschen fühlen sich fremd im eigenen Land und entwurzelt in ihrer eigenen Gesellschaft.

Und dort, wo Regime wie das des Ägypters Sadat, des späten algerischen Chadli Bendjedid oder des saudischen Königs Fahd, selbsternannter Hüter der Heiligen Stätten des Islam, versuchten, sich durch eine Islamisierung von oben eine Legitimationsbasis zu schaffen, ist genau das Gegenteil eingetreten. Sie gaben der islamischen Kritik an ihrer Lebensführung, Wirtschafts- und Sozialpolitik oder politischen Anlehnung an den Westen nur noch mehr Auftrieb. Wer an Legitimität gewann, waren nicht die Regime, sondern die islamistische Opposition gegen sie. Algerien kann sich jederzeit in jedem arabischen Land wiederholen.

Ausgerechnet der saudische König Fahd war der allererste, der den neuen Herrschern in Algier gratulierte. Ein islamistisches und dazu noch demokratisch legitimiertes Algerien hätte den Saudis ihren islamischen Führungsanspruch streitig gemacht. Noch in den 70er und 80er Jahren hatte das Regime in Riad islamistische Bewegungen auf der ganzen Welt finanziert. Vom „Petro-Islam“ sprachen damals arabische Soziologen.

Aber während der Golfkrise hatten die Moslembrüder und andere islamische Oppositionsgruppen ihre politische Unabhängigkeit unter Beweis gestellt und sich an die Spitze der Volksbewegungen gegen das westliche Eingreiffen am Golf gestellt. Mit der offenen Parteinahme für die Saudis gegen die algerische FIS dürfte es nun ein für alle Mal mit dem „Petro-Islam“ vorbei sein.

Die Algerier, so verteidigte der ägyptische Innenministers Abdel Halim Moussa den Staatsstreich, wollten im Grunde genommen selber von der FIS nichts wissen; deswegen hätte die Armee einschreiten müssen — und er versprach, daß sich derartiges in Ägypten und Tunesien, wo es einflußreiche Oppositionsbewegungen gibt, nicht wiederholen werde. Beide Länder würden im Sicherheitsbereich eng zusammenarbeiten. Die Ägypter hätten reichhaltige Erfahrung bei der Bekämpfung des islamischen Terrorismus, so Mussa. Ägyptische Oppositionskreise wollen wissen, daß ihr Innenminister inzwischen Spezialeinheiten nach Algerien entsandt habe, um das Militärregime bei seinem inneren Feldzug gegen die FIS zu unterstützen. Es mag Zufall sein, ist aber symptomatisch, daß genau einen Monat nach der Machtübernahme der Militärs in Algerien das oberste ägyptische Verwaltungsgericht nach einem über 16 Jahre dauernden Prozess das Begehren der Moslembrüder auf Zulassung als politische Partei ablehnte.

Aber den Ägyptern geht es nicht nur um den gemeinsamen inneren Feind. Sie plagt noch ein anderer Alptraum von weitreichender regionalpolitischer Bedeutung: Die Perser, der alte arabische Erbfeind, seien auf dem Vormarsch. Das Rafsandschani-Regime wolle über eine Achse Teheran-Khartum-Algier einen Ring des islamischen Fundamentalismus um Ägypten legen, um so das Herz der arabischen Nation langsam in die Schlinge zu nehmen. Schon seit einem Jahr machen sich Ägypten und Iraner Ansprüche auf eine Rolle in der zukünftigen Golfsicherheitsordnung streitig. In Kairo beobachtet man seit dem Rafsandschani-Besuch in Khartum im letzten Dezember besorgt die Entwicklung der ägyptisch-sudanesischen Beziehungen. Und über den von dem Vorsitzenden der Sudanesischen Islamischen Front, Hassan El-Turabi, geführten Arabisch-Islamischen Volkskongreß, eine Art Konkurrenzorganisation zur Moslembrüder-Internationalen, würde der Iran die sogenannten „Neuen Islamischen Bewegungen“, wie eben die FIS, die tunesische „Ennahda“, aber auch die ägyptische „Arbeiterpartei“ oder die militante Untergrundorganisation „Jihad-Islami“, finanzieren.

Die Reihen schließen

So wie die Entwicklung in Algerien die Kluft zwischen Herrschenden und Behrrschten in der arabischen Welt vergrößert hat, hat sie auch zu einer Polarisierung der ideologischen Lager beigetragen. Viele linke und liberale Intellektuelle fühlen sich wie zwischen Hammer und Amboß, zwischen drohender Islamisierung und Militärdiktatur. Jede Hoffnung auf eine Demokratisierung der arabischen Gesellschaften ist zerstört. Exemplarisch dafür ist die Diskussion in der ägyptischen „Tagammu“, der sozialistischen „Sammlungspartei“. Während der ehemalige Parlamentsabgeordnete der Partei, Milad Hannah, zum Bündnis mit der Regierung gegen die „islamische Gefahr“ aufruft, fordert das theoretische Organ der Partei zu Dialog mit den Islamisten auf: Die Haltung der Islamisten während der Golfkrise hätte ihnen auch die Symphatien vieler Linker eingebracht; obwohl das islamistische Programm die gesellschaftlichen Probleme der Region nicht lösen könne, sei das antiimperialistische Potential dieser Kräfte nicht zu unterschätzen. Da die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt heute keine Unterstützung mehr aus Osteuropa erwarten könnten, sei es um so dringlicher, die eigenen Reihen zu schließen.

Ägyptische Intellektuelle warnten bei einem Gepräch mit Präsident Mubarak vor einer zu schnellen Demokratisierung, die von undemokratischen Kräften ausgenutzt werden könnte. Die gestern noch glorifizierten Massen seien eben Analphabeten und leicht zu manipulieren. Der Soziologe Said Ed-Din Ibrahim macht sich Sorgen um Minderheiten- und Frauenrechte, sollten islamistische Kräfte an die Macht kommen. Aber noch mehr Sorgen macht ihm, daß die Intellektuellen die Demokratie verraten hätten. „Statt zu lamentieren, die Islamisten würden die Unzufriedenheit der Leute ausnutzen“, sagt er, „sollten sie sich lieber selber fragen, warum sie keine Sprache gefunden haben, die die Leute verstehen. Wenn die Islamisten ihre organisatorischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt haben, dann sollten unsere weltlichen Intellektuellen beweisen, daß sie es besser können.“

Der ägyptische Literaturnobelpreisträger, Naguib Mahfuz, dessen berühmtestes Werk Die Kinder unseres Viertels bis heute wegen unterstellter Häresie in seinem Heimatland nicht erscheinen darf, und dem extremistische islamische Gruppen ein ähnliches Schicksal wie Salman Rushdie angedroht haben, stellt nichtsdestotrotz die algerische Junta in eine Reihe mit Hitler und Mussolini: „Auch die einfachsten Menschen wissen instinktiv, wo ihre Interessen liegen“, schreibt er. „Und selbst angenommen, die algerischen Wähler hätten einen Fehler gemacht, sollte man ihnen erlauben, diesen Fehler dann in Zukunft selber zu korrigieren.“

Ob die FIS in Algerien, die tunesische Ennahda oder die ägyptischen Moslembrüder — heute sind es vor allem die islamistischen Gruppen, die sich überall lauthals zum Fürsprecher demokratischer Erneuerung gemacht haben, unabhängig davon, was ihre Motive jeweils sein mögen. Für viele Mosleme ist das, was heute gemeinhin als Islamisierung verstanden wird, nicht notwendigerweise ein Schritt zurück ins Mittelalter. Aus ihrer Perspektive ist es ein Versuch, die durch die Gesellschaften des Nahen Ostens gehenden Risse zu überwinden. Es ist die Suche nach einer eigenen Moderne, die gesellschaftlichen Fortschritt in die Tradition der eigenen Werte und Normen stellt.

Die Forderung nach Einführung der islamischen Scharia ist auch die Suche nach einer verfassungsmäßigen Ordnung, die anders als europäisches Recht von allen verstanden und akzeptiert wird und der absoluten Machtausübung der herrschenden Regime Grenzen setzt. Die Scharia beinhalte alle Grundregeln für die Gestaltung einer modernen demokratischen Ordnung, schreibt der ägyptische, islamische Philosoph Fahmi Huweidi. Anders als die Theokratien des mittelalterlichen Europas kenne der Islam keine göttliche Legitimation des Herrschers. Die göttliche Offenbarung, also der Koran, sei zwar Quelle für die Gesetzgebung, das Volk aber Quelle der staatlichen Autorität: Der Herrscher unterliegt der Volkskontrolle und kann abgewählt werden, wenn sich seine Entscheidungen an anderen Kriterien als dem des „Gemeinwohls“ ausrichten — beispielsweise einem göttlichen Gebot.

Hinaus aus dem luftleeren Raum

Daß auch die sogenannten Islamisten keinen homogenen Block, sondern ein breites Meinungsspektrum repräsentieren, zeigt die innerislamische Diskussion um Algerien.

In Wirklichkeit wäre die algerische FIS nicht auf eine Machtübernahme vorbereitet gewesen, meint Fahmi Huweidi und fordert Selbstkritik. Sie sei eine junge Organisation, der es an erfahrenen Kadern mangele, ohne ein klares Wirtschaftsprogramm. Hätte sie tatsächlich die Regierung gebildet, wäre sie in einem Meer von Problemen versunken. Das hätte dem islamischen Projekt mehr geschadet als genützt. „Die Islamisten schweben nicht im luftleeren Raum“, meint er in der Wochenzeitung 'Al-Madschalla‘. „Die Welt wird immer kleiner, und wir müssen die zunehmenden Interdependenzen in unserer Strategie berücksichtigen.“ Er wirft den FIS- Führern vor, nicht deutlich zu Fragen der Menschen-, Minderheiten- und Frauenrechte Stellung bezogen zu haben. Und Äußerungen des im Juni 1991 verhafteten FIS-Führers Belhadj, die Demokratie sei Teil des westlichen Unterdrückungsapparates, von dem sich die Algerier befreien müßten, hätten auch unter islamischen Intellektuellen Ängste geschürt, auch wenn die FIS später diese Position wieder revidiert hätte.

Auch andere Exponenten der islamischen Bewegung kritisieren die FIS-Strategie trotz ihrer prinzipiellen Solidarität mit dem verhinderten algerischen Wahlsieger. Der islamische Staat sei eine große historische Verantwortung, erklärte der Führer der tunesischen Islamisten, Raschid Ghannuschi, aus seinem Londoner Exil. Es ginge nicht nur um die Proklamierung einer islamischen Republik oder die Änderung von ein paar Gesetzen, sondern um ein zivilisatorisches Projekt. Die tunesische Ennahda würde aus diesem Grunde weder die Forderung nach einem islamischen Staat noch die nach Einführung der islamischen Scharia erheben, sondern sich allein auf den Ausbau demokratischer Strukturen beschränken. Denn die Demokratie sei der Ausgangspunkt für die Reise zum islamischen Staat.

Auch der algerische Arm der Moslembrüder, die „Bewegung für eine islamische Bewegung“, (HAMAS) hatte sich während des Wahlkampfes mit der Parole „Beteiligung, keine Alleinherrschaft“ und einem unzweideutigen Bekenntnis zur algerischen Verfassung deutlich von der FIS distanziert. Wie auch für die Moslembrüder in anderen Ländern steht für sie die Einheit der Umma, der islamischen Nation, im Vordergrund. Und wie ihre Mutterorganisation in Ägypten setzt die algerische HAMAS auf langfristige Überzeugungsarbeit und schrittweise Reformen auf dem Weg zum islamischen Staat. Die Zurückhaltung, die sich die FIS zur Zeit auferlegt hat, mag darauf hindeuten, daß sie sich manche Kritik ihrer Brüder zu Herzen genommen hat.

Die bittere Lehre, die die meisten Araber aus Algerien gezogen haben, heißt: Demokratie im Nahen Osten bleibt ein Sandkastenspiel. Eine kontrollierte Opposition darf zwar an Einzelentscheidungen des Regimes herumkritisieren, aber dieses nicht selbst in Frage stellen. Wirklich relevante Oppositionskräfte werden von vornherein kriminalisiert. So verfeindet die arabischen Regimes untereinander sein mögen: Die Wahlgesetze von Marokko, Tunesien und Ägypten bis in den Irak tragen alle die gleiche Handschrift. Sie verbieten Parteien, die sich eine religiöse Programmatik gegeben haben, und schließen damit die heute einzig relevante Oppositionskraft von vornherein aus dem „demokratischen“ Prozess aus: Die Islamisten.